Die folgenden Bilder sind einige Stunden nach den vorigen entstanden, nämlich am Abend des 22. August 2015, auf dem Weg zum Abendessen. Zwar hätte man auch unmittelbar nach der Haustür in einem der Lokale auf dem Sint-Veerleplein oder in der unmittelbaren Umgebung davon essen können, denn die Dichte an Restaurants ist dort gross, aber ich wollte an dem immer noch sonnigen Abend gern noch mehr von der Atmosphäre der Stadt kennenlernen und nicht gleich zwischen Gravensteen und Groentenmarkt hängenbleiben.
Darum überquerte ich gegen 20 Uhr die Vleeshuisbrug, wo am einen Ende, Klein Vismarkt (Kleiner Fischmarkt) genannt das schmale Rokoko-Haus (s.o.) von 1754 steht und am anderen Ende, hinter dem Giebel-„Gesicht“ der über 600 Jahre alten Fleischerhalle mit dem Marienbild (s.u.) das Galgenhuisje, das auf dem anderen Ufer der Leie den Beginn der sehr beliebten „Restaurantmeile“ bildet, sie sich bis zur St. Michaelsbrücke hinzieht. Das „Galgenhäuschen“ genannte kleinste Lokal von Gent hat in Wirklichkeit nichts mit der mittelalterlichen Halsgerichtsbarkeit zu tun, sondern war als sogenanntes Pansenhaus die Verkaufstelle für Innereien, die nach den strengen Sauberkeitsbestimmungen nicht gemeinsam mit dem übrigen Fleisch gelagert und verkauft werden durften.
> „Maria met de inktpot“ – so heisst diese spezielle Marienbild am Nordostgiebel vom Groot Vleeshuis, und es gibt eine hübsche Legende mit einer Genter Variation dazu. Schon 1416 ist die Rede von so einem Marienbild am Grossen Fleischhaus und es heisst dazu, dass ein gewisser Huibrecht, Sohn eines Magistratsmitglieds, sich an einem Poesie-Wettstreit beteiligen wollte, aber auch nach einer ganzen Nacht nichts zu Papier gebracht hatte. Der erste Preis muss ihm wohl viel bedeutet haben, so viel, dass seine Schwester Elisabeth sich aus Mitleid an „Unserer Liebe Frau“ als Trösterin der Betrübten gewandt hatte, und das so inständig, dass sich das Jesuskind mit einer Gänsefeder dem Schreibtisch genähert und Maria das Tintenfass dort hinstellt haben soll, was dann dem jungen Mann zum ersehnten Erfolg verholfen habe, und aus Dankbarkeit wurde von den Geschwistern Elisabeth und Huibrecht das Marienbild gestiftet, so lautet die Legende.
Das Marienbild soll seinen Ursprung schon vor 1416 haben, wurde aber während des Bildersturms im 17. Jh. gleich zweimal beschädigt und vollständig restauriert. Noch lange danach sollen dort Kerzen und Blumen deponiert worden sein, um Inspiration zu erbitten.
Die Hoogpoort genannte Strasse zwischen dem Groentenmarkt und dem Stadhuis am Botermarkt war ich zwar am selben Tag um die Mittagszeit > schon einmal in entgegengesetzter Richtung gegangen, aber es gibt immer Neues zu entdecken, z.B. die riesigen Kamine vom Stadthuis und davor der barocke Giebel mit der Jahreszahl MDCC (1700) vom Hausmeisterhaus des Stadhuis, von dem ich mittags die Tür fotografiert hatte, oder das alte Goudsmedenhuis mit dem Treppengiebel aus dem 14. Jh., auch Samson-Haus genannt: es diente zwischen 1481 und 1540 der Gilde der Goldschmiede als Gildehalle, 1540 endete dies, weil Kaiser Karl V. nach dem Genter Aufstand zur Strafe den meisten Gilden von Gent ihre Rechte aberkannt hat. Nach 1542 diente das Haus unter anderem einem Tuchhändler, beherbergte eine sozialistische Buchdruckerei und bekam Mitte des 20. Jh. die heutige Schaufensterfront, die ich für’s Foto lieber abgeschnitten habe.
Und ich kam auch wieder an den „beschwipsten Gestalten“ vom Stadhuis vorbei:Das sanfte Abendlicht schmeichelte ihnen mehr als die harten Mittagsschatten, aber einzig Margarete von Österreich bewahrte Contenance, die anderen schienen nach wie vor ziemlich lässig zu posieren. Diesmal war das Licht auch für eine Ansicht der Fassade rund um die Treppe herum günstig, wo die Figuren seit etwa 1900 in ihren Nischen stehen.
Auch die Gebäude schräg gegenüber stammen etwa aus derselben Zeit: Auf der Ecke, wo der Botermarkt, die Hoogpoort und die Belfortstraat aufeinandertreffen, sieht man einen Teil der Fassade des Jacob van Artevelde-Hauses ; im eklektizistischen Stil wurde es 1903 nach einem Entwurf des Architekten Jacob Gustaav Semey gebaut (die beiden Fotos links untereinander:)
Der eindrucksvolle Greif mit Löwenkopf ziert etwas nördlich davon ein Haus auf der gegenüberliegenden Strassenseite, auch im Stil des Eklektizismus entworfen von Henri u. Valentin Vaerwyck und 1907 gebaut, das von der Abendsonne so golden angestrahlte Haus ist von der Belfortstraat aus zu sehen, liegt aber in der Koningstraat : es ist das Hôtel Van Oombergen (Damman) und wurde 1745 von David ‚t Kindt als Haus der Patrizierfamilie Damman im Rokokostil gebaut, 1892 von der Regierung gekauft und als Sitz der Königlichen Akademie für niederländische Sprache und Literatur genutzt. Ich bin weiter der Belfortstraat gefolgt, bis ich vor der Sint-Jacobskerk stand:
… viel zu nah für ein besseres Foto und viel zu dunkel, aber ich kann sie doch nicht einfach weglassen, nur weil ich am nächsten Tag sowieso noch einmal dort wegen eines Flohmarkts noch einmal hingehen würde! Das Bild auszulassen habe ich ausprobiert – geht nicht, ich empfinde dann ein Erlebnisloch beim Ansehen, denn die barocke Giebelansicht des ehemaligen Engelskerkje (Engelskirchlein) am Vlasmarkt, 1743 von Baumeister Bernard de Wilde anstelle einer alten Sint-Janskapelle gebaut, das Ende des 19. Jhs. als anglikanische Kirch zu ihrem englischen Namen St. John’s kam, gehört in meiner Erinnerung mit dem grossen St. Jakobskirchen-Schatten im Augenwinkel zusammen, genau wie noch bei den ersten beiden Fotos in der nächsten Galerie:
Auch der seit vierzig Jahren verfallende neoklassizistische Portikus von 1820 vor der Westfassade der alten > Baudeloo-Kapelle aus dem 17. Jh. an der Ottogracht und das schmucke kleine Häuschen von 1778 im Stil Ludwig XVI. am Beverhoutplein, befinden sich, gefühlt, noch an der Sint-Jacobskerk. Früher hiess der kleine Platz Kleine Botermarkt oder Baudelooplaatsken. Auf dem dritten Bild in der Reihe kann man einen Blick in die Wolfstraat werfen und auf die Fassaden im eklektizistischen Stil. Folgt man dem L-förmigen Verlauf, biegt also auf dem Foto gedanklich vor dem Huis de Passer aus dem Jahr 1906 vom Architekten Jacob Gustaav Semey rechts ab, gelangt man in die Baudelostraat, von der ich schon ein Nachmittagsbild gezeigt hatte > Häuser in der Baudelostraat. Das vielversprechende Rot habe ich einige Schritte weiter nördlich davon am Edward Anseeleplein entdeckt:
Der Edward Anseeleplein war im 15. Jh. Marktplatz für Garn und hiess dementsprechend Garenmarkt ; auch heute noch ist er größtenteils von alten Häusern umgeben. Im 18. und 19. Jh. entwickelte sich um ihn ein lebhafter Standort für Baumwollspinnerei- und -druckerei, eine Reismühle und eine Dampfbäckerei, die Prostitution fand sich irgendwie auch dazu. Den Namen trägt der Platz seit 1918 zu Ehren des 1856 quasi „um die Ecke“ in der Penitentenstraat geborenen Journalisten und Sozialistenführers Edward Anseele, der 1877 gemeinsam mit Edmond Van Beveren und Louis Bertrand die flämische Sozialistischen Partei gründete, die einen Teil der belgischen Arbeiterpartei darstellte und zur Gründung der Genossenschaftsbewegung führte, der die Genter Arbeiter im Jahr 1900 zum ersten Mal kommunale Mitteln für Arbeitslose zu verdanken hatte. In diesem Zusammenhang steht auch das Ons Huis am nahen Vrijdagmarkt.
Die letzten drei Fotos in diesem Eintrag sind am Sluizeken auf der anderen Uferseite der Leie entstanden. Die namensgebende Schleuse gibt es schon seit dem 16. Jh. nicht mehr, und die Häuser rundherum wurden vorwiegend zwischen dem 18. und dem frühen 20. Jh. gebaut. Das auffallend rot-gelb-grün-blau geschmückte Art nouveau-Haus mit den interessant geformten Fenstern (links oben) an der Ecke zur Oudburg ist (wahrscheinlich) ein Entwurf des Architekten Geo Henderick von 1904 und entspricht der damaligen Farbgebung im Bau-Antrag. Das eklektizistische gelbe Backsteinhaus mit roten Backsteinintarsien im Schmuckgiebel auf dem Bild darunter steht in Wirklichkeit gleich daneben. Es ist ein Entwurf des Architekten Jacob Gustaav Semey von 1902, den Architekten hatte ich weiter oben schon im Zusammenhang mit dem grossen Jakob van Artvelde-Haus an der Ecke Hoogpoort–Belfortstraat erwähnt. Beim dritten und ungewöhnlichsten Haus handelt es sich um ein altes Kaufhaus mit Caféhaus darin, eine Mischung von Klassizismus mit Art nouveau-Elementen, 1906 gebaut im Auftrag von Florimond Van Bambeke. Hier ist es nur von seiner Schmalseite zu sehen, in der Galerie darunter in der Breite:
Schräg gegenüber davon fand sich ein Restaurant mit türkischer Küche, und dort bekam ich mein Abendessen. Es war schlicht eingerichtet und voll, außerdem auch laut, aber sehr gut und ich blieb bis es dunkel war. – Fotos vom Abend des 22. August 2015 in Gent, Belgien – bitte zum Vergrössern die vielen, in den Text gebetteten Galerien mit kleinen Bilder anklicken. Sicher hätte man das auf mehrere Artikel verteilen können, aber mir war es als gesamter Abendbummel, d.h. Hinweg zum Restaurant, nicht trennbar erschienen. Der Rückweg kommt ja tatsächlich gesondert.
Das Kaufhaus ist wirklich ein interessanter Bau. Als hätt man sich nicht ganz entscheiden können, welche Stilrichtung es nun werden soll. Sozusagen Übergangszeit. Irgendwie witzig !
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Es war die Zeit um 1900, in der man darin schwelgte, solche Gebäude mit industriell gefertigten Materialien wie Gusseisen, Keramik und viel Glas auf neuartige Weise zu bauen, aber bei diesem hier wollte man anscheinend auch „solide“ wirken. 🙂
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Großartig, wie sich die bunte Vielfalt Gents selbst bei „nur“ einem Spaziergang zum Abendessen darstellt!
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Das ist das Schöne an der Genter Innenstadt, dass sich alles quasi im Vorübergehen bietet.
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