- Rua Madalena mit dem Eingang zum Buchladen und den Escadinhas de São Cristóvão.
Wenn ich das gewusst hätte, wo die Escadinhas de São Cristóvão in die Rua Madalena münden!
Ein Zitat in schwarzen Buchstaben – „Não sei. Falta-me um sentido, um tacto“ – auf der Wand rechts und links des Eingangs zu einem Buchladen wollte ich fotografieren, da entdeckte ich die unscheinbare steinerne Tafel mit der Inschrift: Escadinhas de São Cristóvão daneben.
Das Zitat in schwarzen Buchstaben entstammt einem Gedicht von Álvaro de Campos von 1917, > hier zu lesen .
‚Álvaro de Campos‘ ist ein Heteronym des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa, nicht zu verwechseln mit einem simplen Pseudonym, denn bei den zahlreichen Heteronymen handelt es sich um völlig verschiedene, erfundene, mit Biografien und sprachlichen Eigenheiten ausgestattete Persönlichkeiten, durch die Fernando Pessoa, sich hineinversetzend, geistig ander(e)s (er-)lebte.
Darüber hinaus erweiterte er die Heteronyme wieder um einige Pseudonyme.
Im deutschsprachigen > Wikipedia-Artikel las ich, der englische Übersetzer Richard Zenith habe 72 verschiedene Namen gezählt, doch sei nicht immer klar, welcher der wesentlichen heteronymen Personen – oder Fernando Pessoa direkt – sie zuzuordnen seien.
Es ist ein Verwirrspiel mit zahllosen Stil-Puzzleteilen und eine gewaltige Leistung als gestaltetes Gesamtkunstwerk.
Fernando Pessoa als ‚Fernando Pessoa‘ kommentierte die Arbeiten jener drei wesentlichsten, Alberto Caeiro, Álvaro de Campos und Ricardo Reis, immer wieder. Auf Wikipedia gibt es ein Beispiel:
„[…] Caeiro schrieb schlecht Portugiesisch, Campos akzeptabel, aber mit Lapsus wie ‚ich selber‘ anstatt ‚ich selbst‘ etc. Reis schreibt besser als ich [!], aber mit einer Reinheit, die ich übertrieben finde.“
Wenn man mit dem Nachnamen Pessoa zur Welt kam, also als „Person“, als „Jemand“, noch dazu in seiner Kindheit und Jugend so entwurzelt aufwächst wie Fernando António Nogueira de Seabra Pessoa, wirkt das Spiel mit Namen, Persönlichkeiten, Denk- und Schreibweisen folgerichtig.
Der 1888 in Lissabon geborene und 1935 dort gestorbene Autor und Geisteswissenschaftler ist heute eine der wichtigsten Personen (*seufz* wieder das Wort!) des geistigen Lebens Portugals.
Für das lange und erzählerische, nihilistische Gedicht seines Alter ego > Alváro de Campos, „Tabacaria“ von 1928, das in Portugal Alt und Jung kennen, war das viel kürzere Gedicht, aus dem das Zitat oben stammt, anscheinend elf Jahre zuvor eine vorbereitende Stimmübung.
Der Dichter Paul Celan (1920-1970) war Mitte der fünfziger Jahren der erste deutschsprachige Übersetzer von Gedichten Fernando Pessoas bzw. seiner Heteronyme. Man kann das portugiesischsprachige Original und seine deutsche Übersetzung > hier nebeneinander lesen, im Original kann man es sich, von der angenehmen Stimme des Schauspielers Luís Gaspar gelesen, > anhören und den Text verfolgen., so erhält man wieder ein Stück mehr Kenntnis von dem speziellen Lebensgefühl und der Stimmung in Lissabon, die sich darin erspüren lassen.
Das war es, wohin mich die Escadinhas de São Cristóvão dann doch noch führten: zu Fernando Pessoa und seine Besonderheiten. – Dieses Foto ist vom frühen Nachmittag des 30. März 2016, entstanden in der Rua Madalena am Rande der Baixa Pombalina in Lissabon, Portugal.
Ohne Deinen Hinweis hätte ich mich hier nicht festgelesen. Danke!
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Es freut mich, wenn es für dich spannend ist.
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Ist es. Sehr.
Mir fehlt die Zeit, jetzt sofort alles nachzusuchen und zu lesen.
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Verständlich. Für den ganzen Eintrag brauchte ich auch lange, weil es so viel zu lesen, zu vergleichen und nachzusinnen gibt.
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Der hat es schon schwer, der Nihilist, ihm fehlt nicht nur das Gespür für den Takt des Lebens – womit das Zitat auf der Wand endet – sondern auch für die Liebe. So geht es nämlich weiter. War dem unbekannten An-die-Wand-Schreiber dann wohl doch zu viel.
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Eine Lebenshaltung, die nicht nur Seele, sondern auch den Körper schwächt – was zu beweisen war.
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Oh ja, das führt wirklich weit. Ich lese weiter, wenn ich Zeit habe.
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Fein.
In Teilen finde ich Pessoas Gedankengänge nachvollziehbar, kleinteilige Beobachtungen, die bedeutungsvoll werden, oder solche Momente, in denen eine Auflösung des individuellen Seins zumindest erahnbar würde, aber in der zersetzenden Konsequenz (ver-)mag ich dem nicht zu folgen.
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Ich kannte Pessoa bisher eigentlich nur von seinem (einen bzw. mehreren) Namen und wusste gar nicht, was – und als wer! – er so alles geschrieben hat. Dein Beitrag und die Links dazu sind hochinteressant und sehr lehrreich!
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Eine sehr interessante Persönlichkeit.
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