Das sentimentale Blau der Traubenhyazinthen

2018-04-17 Lüchow, Garten am Morgen, Traubenhyazinthen (Muscari armeniacum)

Das Blau der Armenischen Traubenhyazinthen Muscari armeniacum im Garten erinnert mich stets an das Muster auf dem Kaffeeservice, mit dem ich aufgewachsen bin, einen kleinen Rest davon hüte ich sogar noch im Schrank, obwohl es keinen materiellem Wert darstellt. Es ist nur zweite Wahl, das Kobaltblau ist bei manchen Stücken ein bisschen zu hell, es gibt Brandfehler und manchmal ist das Muster verwischt, aber das Geschirr hat eine kleine Geschichte: meine Mutter erzählte immer gern, sie habe es um 1950 über den Schwarzhandel der frühen Nachkriegszeit zwischen Arendsee / Altmark im heutige Sachsen-Anhalt, damals Sowjetische Besatzungszone, und dem angrenzenden Schmarsau im Wendland, Lüchow-Dannenberg, damals britische Besatzungs-Zone, bekommen, bargeldlos, weil eingetauscht gegen ein lebendes Schwein. Jahr für Jahr wiederholt sich die Gedankenkette: sehe ich im Frühling die Traubenhyazinthen blühen, denke ich an das etwas zu helle Kobaltblau und die Geschichte des ersten eigenen Porzellans meiner Eltern sowie viele andere Augenblicke, in denen es in späteren Jahren an verschiedensten Wohnorten auf dem Tisch stand.

Kirschpflaumen

Was für eine Odyssee! Herstellungsort des Porzellans ist nämlich Eisenberg in Thüringen, die > Porzellanfabrik Kalk, und das Dekor mit der Feston-Kante heisst „Japan“ oder „Japan-Blume“; das Dekor wurde über eine lange Zeit mit Varianten hergestellt, so konnte ich dank Internet-Recherche herausfinden .
Es ist die letzte Tasse, und der Schwund ist kein Wunder: allein mit meinen Eltern ist das Porzellan zwischen 1953 und 1970 sieben Mal umgezogen, und mit mir hat es zwischen 1979 und 2010 mit schrumpfendem Bestand sogar weitere zehn Umzüge hinter sich. Diese Tasse und der noch übrige Sahnegiesser, Kaffeekanne, Marmeladentopf, vier Untertassen und fünf Kuchenteller haben eine wahre Odyssee hinter sich.
Welchen Weg sie nach ihrer Herstellung im thüringischen Eisenberg ins Hannoversche Wendland genommen haben und wie sie in das kleine Dorf Schmarsau gekommen sind, bleibt rätselhaft, aber danach, wie gesagt, kam es im Bollerwagen nach Arendsee in die Altmark, von dort mit der Bahn ins pfälzische Worms am Rhein, anschliessend mit diversen Umzugsfahrzeugen in die Lüneburger Heide am Westrand des Kreises Uelzen und von dort nach Lüchow im Wendland, und später von Lüchow mit mir nach Hannover, ins bayerische München, ins westfählische Iserlohn, nach München zurück und dann sogar noch ins österreichische Burgenland, nach Neusiedl am See nahe der ungarischen Grenze (wo ich auch Traubenhyazinthen im Garten hatte und auf den umliegenden Hügeln wildwachsende Weingarten-Traubenhyazinthen Muscari neglectum entdecken konnte – siehe letztes Foto) bevor sich der Kreis in Lüchow wieder geschlossen hat.

Mit welchen Menschen in der Vergangenheit dieses Kaffeegeschirr auf dem Tisch gestanden hat, an die ich mich in irgendeiner Weise erinnere, fasziniert mich, berührt mich und macht mich grübeln, wie viele davon mir wohl noch einfallen, Besucher und Familie. Ich habe so ein seltsames Gedächtnisnetz, wo man nur ein einem Faden zu zupfen braucht, dann laufen die Erinnerungen langsam zusammen, immer mehr und noch mehr, fast überwältigend und für andere oft nicht nachvollziehbar, wenn ich davon spreche. Personen, Stoffmuster, Gerüche, Orte, Namen, Erzählungen, Gefühle, Möbel, Geräusch-Sequenzen, Bilder, Tätigkeiten und Urlaube auch … So also ist das mit dem sentimentalen Blau der Traubenhyazinthen.

Fotos vom 17. April 2018 und 3. August 2011 im Garten, Lüchow im Wendland, Niedersachsen. Das Sommerfoto von der Tasse mit Kirschpflaumen und das Frühlingsbild mit den Weingarten-Traubenhyazinthen auf dem Trockenrasen der Gstetten am Neusiedler Kalvarienberg vom 16. April 2010 waren glücklicherweise in der Mediathek des Blogs vorhanden. Zum Vergrössern bitte die Bilder anklicken. Bei den beiden älteren Fotos kann man bei Interesse von dort aus über die Zeile unmittelbar über dem Foto auch zu den damaligen Artikeln im Blog gelangen.

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9 Gedanken zu “Das sentimentale Blau der Traubenhyazinthen

  1. Was für eine Geschichte! Manchmal gibts so Gegenstände, mit denen man viel verbindet, wobei du schon eine sehr besondere Beziehung dazu zu haben scheinst, zumal du dich an so viele Begebenheiten erinnern kannst! Ich kann mir im Moment nichts vergleichbares vorstellen (muß mal grübeln gehen…). 10 Umzüge in 31 Jahren sind zudem recht ordentlich!! Was für ein weitgereistes Service mit einer spannenden Geschichte! Die Traubenhyazinthen sind toll. Ich mag sie auch sehr gerne.

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    • Ja, das ist schon speziell, die Art und Weise, wie sich die Dinge bei mir manchmal festsetzen, und welche Impulse dann die Fäden ziehen, an denen sie hängen wie Fische, die nach dem Köder an der Angel schnappen.
      Traubenhyazinthen sind da vorn dran, aber es könnte auch der Duft von Rhabarber sein, Schwalbenzwitschern oder bestimmte Schallplatten.

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        • Meinen Mann nervt das, wenn ich wieder so von Ast zu Ästchen hüpfe, wo er sich nicht mal an einen Baum erinnert, bildlich gesprochen. Ich kenne auch sonst kaum jemanden, bei dem es ähnlich ist. Einer meiner Söhne ist allerdings genauso einer, der andere hat lediglich ein gutes Gedächtnis für Dinge, die er aus gerichtetem Interesse im Fokus hat. Das ist wohl eher das Normale.

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