Mittags in Kühlungsborn

Zurück zu meinem kleinen Ausflug am dritten Wochenende im August, zum 17. August 2018!

Nach dem Umrunden von Schloss Schwerin am Vormittag folgten eineinhalb Stunden gemütlicher Fahrt mit dem Auto über baumgesäumte Landstrassen und sanfte Hügel nach Kühlungsborn, um dort eine Nasevoll Ostseeluft zu nehmen.
Warum ausgerechnet Kühlungsborn? Wegen eines kleinen Segelschiffes hinter der Glasscheibe eines kleinen Schränkchens in der Wohnung meiner Grossmutter, mit der schnörkeligen Aufschrift „Kühlungsborn“, zu dem nie eine Geschichte erzählt wurde – Grund genug, den Namen über viele Jahrzehnte zu bewahren.

Über Schwerin hinaus war ich in „Meckpomm“ bisher nicht unterwegs, trotzdem spürte ich zwischen den Bäumen der Landstrasse das nahe Meer, noch bevor das ersten Fitzelchen Wasser in Sicht kam, ganz wie früher als Kind auf der Rückbank, auf dem Weg von der Grossmutter zum Ostseestrand, nur diesmal Luftlinie etwa siebzig Kilometer weiter östlich. Ob es am Licht liegt oder an der Luft – es passiert einfach, als würde ein Schalter umgelegt. Der Duft der Ostsee war derselbe wie in den Sommern meiner Kindheit; Strandhafer, Kartoffelrosen, Strandkörbe und einzelne weisse Segel auf dem Wasser rührten an lang zurückliegende Sommer in einer anderen Bucht, aber das war in dem Augenblick gleich.

2018-08-17 mittags, Kühlungsborn, Strandkörbe am Strandzugang 17, Blickrichtung Ost

Es fehlte nur noch der Singsang des Gurkenmanns, der damals mit zwei Eimern „Salzgurken, Delikatessgurken, süss-sauer eingelegt!“ über den Strand ging; von Strandkorb zu Strandburg, hinter Sandburgen und zwischen Nur-Handtuch-Plätzen verkaufte er damals seine selbsteingelegten Gurken: die Nostalgiemischung wesentlicher Eindrücke wäre perfekt gewesen. Die um die Gesundheit besorgte Lebensmittelaufsichtsbehörde würde so einen Verkauf heute sicher nicht mehr genehmigen. Ohne die damals üblichen Sandburgen rund um die Strandkörbe, in denen meist grössere Familien mit Schwimmreifen und Buddelzeug, Keschern und Kühltaschen lagerten, passen auch mehr der weisslackierten, in Marineblau und Weiss einheitlich ausgestatteten Körbe nebeneinander.

2018-08-17 mittags, Kühlungsborn, Strandkörbe am Strandzugang 17, Blickrichtung West, zum Baltic Platz (Seebrückenvorplatz)

Wer Appetit auf eine Erfrischung hat, muss heute den Strand verlassen, braucht aber nicht weit zu gehen, denn die vier Kilometer der längsten Strandpromenade Deutschlands, von Kühlungsborn-Ost bis Kühlungsborn-West, sind gesäumt von verschiedensten Restaurants und Cafés. Viele davon sind reetgedeckt und sehen gemütlich aus, man braucht sich nur eines auszusuchen. Nach dem Ende der meisten Schulferien war es an diesem Freitagmittag recht ruhig, die Strandpromenade wenig frequentiert. Es mag auch an den aus nordwestlicher Richtung am Himmel aufziehenden, dunklen Wolken gelegen haben. Mir war es recht, ich habe ein Faible für solche Stimmungen.

2018-08-17 mittags, Kühlungsborn, Strandpromenade Richtung Baltic Platz mit Hotel 'Schloss am Meer' hinten

Statt im Bademantel eingewickelt, weil gerade zum Essen aus dem Wasser geholt, mit einem Teller selbstgemachtem Nudelsalat auf den Knien und etwas Sand zwischen den Zähnen, wie in den Ostseesommern meiner Kindheit, gab es für mich diesmal Windbeutel mit Sauerkirschen, Sahne und Eis mit einem Kännchen Kaffee auf der Terrasse eines Cafés an der Strandpromenade. Dort sass man durch Glasscheiben vor Wind und Sandflug geschützt, mit Blick auf die Vorübergehenden und das Meer. Die grossen Möwen sassen herum und kehrten der Strandpromenade den Rücken zu, machten Mittagspause. Schade, von ihnen hätte ich mir Geschrei gewünscht, um die Wirksamkeit der Musikberieselung zu entkräften, die ich nicht ignorieren kann wie es für andere normal ist: auf mich wirkt sie durch das ständige Hervorrufen von Erinnerungen und Assoziationen lästig wie eine ständig um mich kreisende und auf der Haut herumkrabbelnde Fliege.

2018-08-17 mittags, Kühlungsborn, Strandpromenade, Strandkorbvermietung West am Baltic Platz

Am langgestreckten Seebrückenvorplatz, dem sogenannten Baltic Platz, waren schliesslich grössere Gebäude zu sehen, die auf mit Türmchen und Fachwerk die alte Seebad-Tradition hindeuteten. Anders als die leerstehende neobarocke Villa Hausmann / „Villa Baltic“, zwischen 1910 und 1912 durch den Architekten Alfred Krause für den Berliner Rechtsanwalt und Notar, Justizrat Wilhelm Hausmann und seine Frau Margarete errichtet, sind die anderen, als Hotels genutzten Gebäude Nachbauten der vorher an derselben Stelle befindlichen Kurhotels, als dieser Teil von Kühlungsborn noch Arendsee hiess, weil, wie man vermutet, Nonnen es um das 12. Jh. nach dem Kloster Arendsee in der Altmark benannt haben sollen. Bis zum 1. April 1938 war der Name Arendsee noch als Doppelname Brunshaupten-Arendsee als zwei von drei darin aufgegangenen Örtlichkeiten in Verwendung, dann wurde die Bezeichnung durch den frei erfundenen neuen Namen Kühlungsborn ersetzt.

Erste Bestrebungen für einen Badebetrieb zeichneten sich schon Mitte des 19. Jhs. ab, um 1890 hatte er sich bereits ganz einträglich entwickelt und wurde ab da stetig mit neuen Verkehrsmitteln, Gästehäusern, beleuchteter Promenade, Wasserversorgung, elektrischem Stromnetz und natürlich Erweiterungen der Bademöglichkeiten ausgebaut.
Weil das Ehepaar Hausmann keine Kinder hatte, vermachte die Witwe die Villa deshalb der jüdischen Hochschule. Das Erholungsheim der Akademie und die Beliebtheit des Badeortes bei jüdischen Familien, die eine Reihe von Sommerhäusern im damaligen Arendsee gebaut hatten, sahen sich einem seit der Kaiserzeit zunehmenden Antisemitismus gegenüber.

2018-08-17 mittags, Kühlungsborn, Strandpromenade am Baltic Platz, Villa Hausmann v. 1912

Nach der Machtübernahme der Nationalzozialismus spitze sich diese Haltung immer mehr zu, bis es 1935 zu eingeworfenen Fensterscheiben kam und schliesslich zur Enteignung der Stiftung. Badebetriebe und Gastronomie wandten sich zunehmend gegen ihre jüdischen Gäste. „Bäder-Antisemitismus“ wurde sogar ein feststehender Begriff. Die Geschichte der Villa Hausmann und das im Laufe der weiteren Jahrzehnte durch die Hände ständig wechselnder Besitzer und „Investoren“ verursachte desolate Erscheinungsbild des verfallenden Gebäudes wirkt wie eine nicht verheilende Wunde im sonst so heiteren, etwas künstlichen Ambiente des heutigen Kühlungsborn, wie etwa das fast schon zu perfekt aussehende Hotel ‚Schloss am Meer‘, Nachbau des 1906 errichteten und 1994 abgerissenen alten Kurhauses von Arendsee i.M. direkt am Baltic Platz und weitere solcher Nachempfinungen der alten Bäderarchitektur .

2018-08-17 mittags, Kühlungsborn, Baltic Platz mit Hotel 'Schloss am Meer' (neues Hotel nach dem Vorbild des altes Kurhauses von Arendsee /Ostsee)

Ganz ohne eine Annäherung an die persönliche Bedeutung des Schiffchens für meine Grossmutter ist mein Besuch des Ostseebades Kühlungsborn nicht geblieben, schliesslich habe ich deshalb endlich einmal alles Mögliche über den Ort gelesen, z.B. dass zwischen 1939 und ’45 ein Grossteil der Hotels und Pensionen als Lazarette und Unterkünfte für Bombengeschädigte und Flüchtlinge genutzt wurden, die sich vorübergehend oder dauerhaft dort niederliessen. Etwa 3500 Einwohner lebten zu Kriegsende in Kühlungsborn, mit den Flüchtlingen aus verschiedenen Teilen Deutschlands, davon vielen Ostpreussen, Westpreussen und Pommern, waren es kurz darauf mehr als 11’000 Menschen.

2018-08-17 mittags, Kühlungsborn, Holzskulpturen am Baltic Platz (Seebrückenvorplatz)

Das brachte mich auf einen neuen Gedanken und ich nahm mir in den seither vergangenen Tagen eine von meinem Vater in seinen letzten Jahren verfasste Familienchronik vor, verglich bestimmte Jahreszahlen und Ortsangaben und siehe da: das kleine, längst verschwundene Segelschiffchen bekam einen gedanklichen Hafen, das kindliche Rätselraten hat ein Ende. Dass meine Grossmutter unkonventioneller war, als sie uns gegenüber immer tat, hat sie mir sowieso erst verraten, als sie fast neunzig war. Das war also meine Geschichte, weshalb ich ausgerechnet in Kühlungsborn war. Die Fotos sind vom Mittag bis zum Nachmittag des 17. August 2018, Ostseebad Kühlungsborn in Mecklenburg-Vorpommern.

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10 Gedanken zu “Mittags in Kühlungsborn

  1. Das vorletzte Foto ist superb!
    „Bäder-Antisemitismus“ – was für ein Begriff!
    Je mehr ich zum 3. Reich lese, umso unerträglicher wird mir das Ganze. Aber es hilft nichts: Man/ich muß mich bilden und ganz genau hinschauen.

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    • Danke. Die Linienverläufe der Pflasterung tragen viel dazu bei. Ich frage mich, ob man das bei der Anlage berücksichtigt hat.
      Du hast so recht. Es ist absolut schrecklich und erschreckend, vor allem die Summe der vielen, eigentlich kleinen Details, die im Ganzen das grösste Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen.

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  2. Da hast du unsere Spuren häufig gekreuzt. Wir sind gern in Kühlungsborn, an Orten, die du auch beschrieben hast, freuen uns über den weiten Strand, bedauern den Zustand der „Villa Baltic“, in deren Nähe wir unser Quartier haben. Für uns ist diese Investorengeschichte um die Villa ein unrühmliches Kapitel der neueren Geschichte Kühlungsborns. Durch Vandalismus ist das Gebäude innen so zerstört, dass es fraglich ist, ob daraus jemals wieder etwas Positives entstehen kann. Sh. https://www.youtube.com/watch?v=jIdU9ZM9Uz0, ein Bericht aus dem Inneren des „Lost places“.

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    • Ich fand den Ort, bis auf diesen desolaten Flecken, angenehm, vor allem für Fussgänger ziemlich stressfrei, was es umso trauriger wirken lässt. Nachdem ich gelesen habe, dass es sogar schon zum Abriss der alten Schwimmhalle gekommen ist, verheisst das wohl nichts Gutes.
      Aber beim Lesen der Historie des Badeortes scheint ja überall der unrühmliche Erwerbssinn als Hauptmotivation durch – was ja keine Ausnahmeerscheinung ist, aber eben sich hier vor aller Augen deutlich manifestiert. Was man verfallen lässt, wird man irgendwann trotz Denkmalschutz abreissen „dürfen“ und damit kann man sich gleich mehrerer Probleme entledigen.

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      • Der alten Schwimmhalle trauere ich nicht nach. Sie war schon vor vielen Jahren geschlossen worden, paßte mit ihrem Charme der 60er DDR-Architektur überhaupt nicht dorthin und der Verfall war weit fortgeschritten. Als sie im letzten Jahr abgerissen wurde, verschwand damit das größte Schandmal des Ortes. Genutzt wurde sie neben dem normalen Publikum insbesondere zum Training von Spezialeinheiten der NVA (Kampfschwimmern).Schade nur, dass es außerhalb der Badesaison kein öffentliches Hallenbad mehr gibt.

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        • Ah, dann habe ich da etwas gelesen und missverstanden: ich dachte, die hätte zur Original-Villa von 1912 gehört. Die Mühe hatte ich mir nicht gemacht, dem nachzugehen, sondern mir in meiner Phantasie unwillkürlich neobarocke Dekore oder wenigstens jugendstilhafte Säulen und Bogenfenster rund um ein privates Bassin vorgestellt.
          Das Problem mit dem Verschwinden der Bäder haben wir bei uns ja auch. Die Gelder fehlen, die früher dafür reichlich vorhanden waren, viele Kinder haben keinen Schwimmunterricht mehr in der Schule, es gibt wieder viel mehr Nichtschwimmer.

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    • Sehr gern, Felino-Steve 🙂
      Wie ich oberhalb deines Kommentars gerade unter den Kommentar von Phililpp Elph schrieb, hat der Ort auf mich einen sehr angenehmen, entspannten Eindruck gemacht.

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