Amerika … nicht. – Meine 5. ABC-Etüde 2020 für die Textwochen 06.07.20

Hier ist noch eine Etüde zur neuen Schreibeinladungen für die > Textwochen 06.07.20 auf Christianes Blog Irgendwas ist immer, zur Wortspende von Alice / Make a Choice Alice : Grippe – gebleicht – knuddeln.
Den Etüden-Regeln gemäss sind die 3 gegebenen Begriffe in maximal 300 Wörtern zu verwenden, Inhaltshinweise und Überschrift zählen dabei nicht mit.

Amerika … nicht.

Aus Ohio schrieb die Verwandtschaft nach Weimar, sie sollten nachkommen, und ja: sie wollten, sehr gern!
Um Geld für die Schiffspassage zu verdienen, trat das Ehepaar in die Dienste eines Adeligen, für dessen Haushalt in London, England. Einen Jahreslohn sollte es jeden Erwachsenen kosten, für beide Kinder je einen halben.
Wäre nur nicht im Haus an der Themse ein drittes Kind geboren und durch den Tod des Brotherrn das Dienstverhältnis vorzeitig beendet worden!

Sie kehrten nach Deutschland zurück und blieben in Altona, um 1900 einer der dichtbesiedeltsten Städte Deutschlands, von wo aus die Überseedampfer ablegten. Vielleicht später …
Zu fünft bewohnten sie das Zimmer in der Wohnung des verwitweten, alten Besitzers eines Barbier- und Friseurladens, in dem Benjamin Arbeit fand. Dorothea besorgte den Haushalt, während die Vierjährige Tag für Tag auf den kleinen Bruder und das Jüngste achtete, damit die beiden nicht die frisch gebügelten Barbiertücher aus gebleichtem Leinen vom Tisch zogen und wieder verknuddelten.

Es war nicht ungewöhnlich: wegen hoher Mieten wurden viele Wohnungen von mehreren Familien belegt, Betten untervermietet, Waschgelegenheiten und Toilettenräume gemeinsam benutzt. Wurde einer krank, bekamen es die Mitbewohner bald auch. Tuberkulose war verbreitet, Cholera gefürchtet, auch weitere Krankheiten verliefen wegen Armut tödlich.
Was würde aus ihnen werden, wenn es dem alten Mann noch schlechter ginge? Influenza, sagte der Arzt, Grippe. Benjamin sollte bald mit ihm über das Geschäft sprechen.
Sie strich mit der Hand über ihren Bauch. War zu Weihnachten erst das neue Baby da, würden ihre Ersparnisse sie nie mehr nach Ohio bringen. Aber vielleicht konnten sie mit dem Geld hier bleiben, eine Existenz gründen, und in einem Zuhause leben statt weiterhin in Ungewissheit?

(270 Worte)

 

31 Gedanken zu “Amerika … nicht. – Meine 5. ABC-Etüde 2020 für die Textwochen 06.07.20

  1. Das waren heftige Zeiten. Nun frage ich mich, ob wir nicht teilweise wieder auf dem Weg zurück sind? Wohnungsnot, zunehmende Armut, Mietpreise, die nur noch wenige wuppen können, etc. –
    Herzliche Grüße
    Ulli

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  2. Ich hatte an dem letzten Wochenende eine Rede eines Politikers gehört, in der er das Narritativ „Früher war alles besser“ blossstellte. Er sprach von 1880 etwa, als die Industrialisierung in vollem Gang war. Da gab es solche Verhältnisse, von denen Du hier erzählst.
    Und mir fällt ein Film ein, den ich auch an diesem WE sah: „Die Insel der hungrigen Geister“, in der Migrantenproblematik in einem fernen Land thematisiert wurde.

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    • Richtig, das ist die Zeit. Besser war es nur für manche, die wohlhabend genug waren.
      So viel ich über die Generationen meiner Vorfahren im 19. Jh. weiss, haben sie sich zwar nicht in dem befunden, was man als Elend und Armut beschreiben müsste, aber sie lebten in grosser Bescheidenheit und immer bereit, dorthin zu ziehen, wo es für sie Arbeit gab.
      Die beiden hatten später für einige Jahrzehnte eine nette, kleinbürgliche Existenz, bis die Krebserkrankung für die Urgrossmutter bzw. die Reichskristallnacht dem Urgrossvater und dem kleinen Geschäft zum Verhängnis wurden.
      Ansonsten erinnert mich vieles der europäischen Auswanderer-Geschichten an die Hoffnungen der Menschen, die aktuell aus anderen Teilen der Welt in ein besseres Leben zu kommen suchen.

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      • Vor 2 Jahren machte ich auf der Rückfahrt von Tirol Station im Allgäu. Sozusagen per Zufall landete ich dort, wo es einst ein Arbeitslager gab mit 50% Verluste an Menschenleben in wenigen Monaten.
        Und nebendran gab es die Geschichte von Neugablonz! Vertriebene aus Gablonz, die ganz ärmlich hier eine neue Region zum Leben zugewiesen bekamen. Die Töchter einiger dieser Menschen, schon in ihren 70ern waren nur bereitwillig, Auskunft zu geben. Sie betreuten das Stadtmuseum.
        Man fragt sich, was deren Kinder von all dieser Zeir halten? Mittlerweile dürften die Frauen ja auch schon Enkel besitzen.

        Mich jedenfalls lähmte die nachdrückliche Präsenz dieser zwei geschichtsträchtigen Orte sehr. Und es musste sein, daß ich dort für 2 Tage landete.
        Im Zuge dessen las ich auch über Arbeitslager auf einer Berghöhe. Im Tal, nur 1,5 km getrennt, war reines Urlaubsland. Manche Dörfler gingen zum Zahnarzt des Lagers. Oben wurde gestorben und unten gefeiert.

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  3. In den 50er Jahren sind noch etliche Familien ausgewandert. Eine Nachbarsfamilie damals von uns, und auch meine Mutter hat sich ernsthaft damals mit dem Thema „ab in die USA“ auseinander gesetzt. Aber dann sind wir doch geblieben.

    Aber schau nach Mittelamerika und Mexiko: die würden alle gerne noch auswandern, bloß werden sie durch eine Mauer davon abgehalten. Und ihre Träume sind vergleichbar wie damals bei den großen Auswanderungswellen.

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  4. Liegt es nicht im Menschen verankert, unterwegs zu sein? Seit Urzeiten hat es die Menschen doch dahin gezogen, wo sich ihre Lebensverhältnisse verbessern könnten und wenn Krieg und Verfolgung dazu kam, erst recht.
    Heute ist es doch nicht anders, wenn man die Flüchtlingsströme weltweit betrachtet.
    Auswandern und Flüchten – ich sehe da keinen so großen Unterschied.

    Toll geschrieben und ein Spiegelbild der damaligen Zeit.

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  5. Sehr gut geschriebene und den damaligen Zeitgeist und die schwierigen Lebensverhältnisse nahebringende Geschichte (im doppelten Sinne)!
    Die Nöte und Sehnsüchte, aber auch den Alltag der (Amerika-)Auswanderer habe ich vor einigen Jahren auch im Auswanderer-Haus in Bremerhaven eindringlich dargestellt empfunden.

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    • Danke, Christoph!
      Das wird mir bei Sachthemen im Rahmen dieser speziellen Schreibübungen zur Herausforderung, viel recherchieren zu müssen, dabei Neues lernen zu dürfen, das Ganze mit meiner Sicht zu verdröseln und auf maximal 300 Worte einzudampfen.
      Warst du nur im Sinne touristischen Interesses im Auswandererhaus, oder persönlich motiviert?
      LG

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      • Es war ein Kurz-/Städteurlaub in Bremerhaven mit Stadtbesichtigung und Besuch der beiden beeindruckenden Museen Auswandererhaus und Klimahaus. Wegen des regnerischen Wetters fielen die Museumsaufenthalte noch intensiver aus als geplant, was sich aber auch voll und ganz lohnte.
        Persönliches oder familiäres Interesse war im Auswandererhaus bei mir nicht dabei. In unserer (weiteren) Verwandtschaft und im Bekanntenkreis habe/kenne ich nur wenige – und dann „neuestzeitliche“ – Auswanderer; kein Vergleich mit den im Museum gezeigten Biographien.
        Es war also mehr allgemeines geschichtliches und geographisches Interesse.
        Ich finde gerade die Zusammenschau der beiden Häuser/Museen auch sehr spannend, weil Migration oft mit Klima und Klimawandel zu tun hat und hatte.

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        • Interessant, wie unterschiedlich das sein kann, bei mir sind es gleich verschiedene Familienzweige, die ihr Glück mit Auswanderungen versucht haben. Es gibt zwar keine Verbindungen mehr; die bestanden hatten, sind in der Generation meiner Grosseltern abgerissen, aber ich weiss doch noch ein von einigen.

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