Nicht allzu weit weg (7 aus 12 | Etüdensommerpausenintermezzo II-2021)

Christiane hat auf ihrem Blog ‚Irgendwas ist immer‘ zum > 7 aus 12 | Etüdensommerpausenintermezzo II-2021 geladen und auch wieder die anregende Grafik mit den Grundvorraussetzungen dazu erstellt. Aus den dort versammelten 12 Wortspenden sollen mindestens 7 ausgesucht und spätestens bis zum Etüdenneustart am 5. September 2021 verwendet werden. Der Text soll umfangreicher sein als gewöhnliche ABC-Etüden und ein zu bezeichnendes, reales Gewässer mit in das Geschehen einbeziehen.

2021-07-11 Etüdensommerpausenintermezzo Christiane_04 450

Dies sind die 12 Wortspenden:
  1. Dachbegrünung
  2. Eigentor✔
  3. Fliegenklatsche✔
  4. Glühwürmchen✔
  5. Konzert✔
  6. Lebensgeister✔
  7. Regen✔
  8. Similaungletscher✔
  9. Sommerloch✔
  10. Wasserläufer✔
  11. Wetterleuchten✔
  12. Willkür✔

Meine 1. Geschichte handelt zwar von einer Reise, aber führt nicht in fremde Länder und überhaupt:

Nicht allzu weit weg

Vera sass am Küchentisch und sah angewidert zu, wie ihr Mann Philipp mit einer Fliegenklatsche einer weiteren grauen Fliege auflauerte. Sie starrte auf das vom Gebrauch dunkel gefleckte, orangefarbene Plastik, konnte weder wegsehen noch weiteressen. Zu stark empfand sie Ekel in Mund und Hals beim Anblick der feucht zerdrückten Chitinhüllen, von sich schwarze Fliegenbeine nach allen Seiten sträubten.
Es schmeckte metallisch wie die gewittrige Luft, dachte Vera, die sie zusammen mit dem Wetterleuchten am westlichen Himmel gewarnt hatte, zu ihrem ersten grösseren Spaziergang aufzubrechen, seitdem sie am Vorabend ankamen.

Draussen sorgte inzwischen Regen für ein kräftiges Hintergrundrauschen. Dank des vorkragenden Holzbalkons darüber gelangten die grossen Tropfen nicht durch das offene Fenster, durch das die schutzsuchenden Fliegen eingedrungen waren, kaum dass Vera die Flügel wegen der guten Luft aufgestossen hatte.
Sie mochte nämlich den im Raum stehenden Geruch nach jahrzehntelang in Holz und Wände gedrungenem Rauch und Bewohntsein nicht. Bei der Buchung des Ferienhauses für ganze drei Wochen hatte Vera sich einfach nicht vorstellen können, wie so ein altes Wohnhaus riecht. Philipp hatte keinen so feinen Geruchssinn wie sie und empfand auch den Geruch der Betten nicht als unangenehm, während seine Frau sich nach den sonst gewohnten, immer-neutral riechenden Hotelbettdecken kaum hineinkuscheln und sich darin bewegen mochte, um das Fremde darin nicht durch die Bewegung aufzustören und es wieder wahrzunehmen.

Weil sie und nicht er das Ferienhaus ausgesucht hatte, bezeichnete Philipp ihren Fehlgriff lachend als ihr Eigentor, weil er nämlich ein kleines Hotel bevorzugt und nur ihr und dem Hund zuliebe nachgegeben hatte; ihr wenige Wochen zuvor aus dem spanischen Tierschutz übernommener Mischlingshund hatte das Einmaleins des guten Hundebenehmens noch nicht genug verinnerlicht, um mit ihm in einem Hotel nicht unangenehm aufzufallen.
Ihm zuliebe hatten sie auch nur auf eine kurze Reisestrecke beschränkt und waren, statt nach Südtirol zu reisen, nur bis zum Harz gefahren, denn Autofahren war auch noch nicht sein Ding, er hechelte und fiepte fast ununterbrochen.
So konnte man natürlich nicht allzu weit weg fahren und der Blick auf den Similaungletscher musste auf ein anderes Jahr verschoben werden, der auf die Teufelsmauer im nordöstlichen Harzvorland genügen.

Jetzt allerdings konnte man meinen, der Hund sei gar nicht da. Beim leisesten Gewittergrollen hatte er sich bereits eilig in das Dunkel unter die alte Eckbank verzogen. In der schützenden Höhle wollte er ausharren, bis das tosende Konzert des Unwetters wieder vorüber war. Doch der arme Kerl musste noch warten, weil nach einem kurzen Innehalten ein neuer Blitz über den Himmel zickzackte und sich mit einem weiteren, rollenden Donnerschlag wieder ein lauter, gewaltiger Regenschauer heranrauschte.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes erbrach sich plötzlich das Wasser aus der Dachrinne der Scheune mit heftigem Schwall auf den Boden und sorgte damit für eine willkommene Ablenkung, denn Philipp fixierte nicht länger seine möglichen nächsten Opfer, die auf dem Tisch umherkrabbelten. Stattdessen legte er die Patsche beiseite und erwog besorgt, ob er hinüberlaufen und das Verdeck des dort untergestellten Cabrios schliessen sollte, falls das alte Dach undicht sei. Er murmelte etwas davon, dass man der Willkür des Wetters nicht trauen, sich aber sehr wohl auf Murphys Law verlassen konnte, seiner Erfahrung nach, und griff nach dem Autoschlüssel.So ähnlich hätten es die Fliegen sicherlich auch empfunden, dachte Vera insgeheim.

Als Philipp sich so weit wie möglich auszog und nur in kurzen Hosen über den Hof rannte, damit möglichst wenig Kleidung durchweichte, konnte sie endlich wieder lachen. Das sah zu komisch aus, wie er versuchte, im Zickzack grosse Pfützen zu umrunden und doch immer wieder hineinplatschte. Er war eben nicht so ein Insekt, das auf seinen sechs langen Beinen leicht über Wasserflächen dahineilen kann, ohne nass zu werden, kein Wasserläufer.
Im Übrigen bewahrheitete sich die Wetterabteilung der Murphy’schen Gesetze, die davon ausgehen, dass es immer erst aufhört zu regnen, wenn man die Nerven verloren und sich in den Regen hinausgewagt hat, wo man bis auf die Haut nass wurde: erst danach hört es auf, so kennt man das!

Während der Regen nachliess und es sich draussen langsam aufhellte, trocknete Philipp sich ab und zog sich wieder an, keine Minute zu früh, denn schon kurvte ein dunkelroter Kastenwagen in den Hof, und hielt gleich vor der Haustür.
Ihre Vermieterin stieg aus und näherte sich der Tür. Mit dem Klang ihrer nahenden Schritte wachten auch die Lebensgeister des Hundes unter der Eckbank wieder auf. Bellend rannte der weissbraune Pepino zur Tür und begrüsste die Frau, die ihm freundlich die Seite tätschelte.
Ob alles in Ordnug sei nach dem Regenguss, wollte sie wissen, und ob sie irgendetwas bräuchten. Der Haushalt ihrer Grosseltern sei einfach so geblieben, wie er war, um das Haus als Ferienhaus zu nutzen, sie dürften gern überall hineinsehen und verwenden, was sie fanden. Vera bedankte sich für das Angebot und fand es auf einmal unmöglich, Kritik an der Muffigkeit des Hauses zu äussern, wie vorgehabt.

Stattdessen lud sie ihre Gastgeberin ein, mit ihnen bei einer Tasse Kaffee etwas über die Umgebung zu erzählen und erfuhren, dass sie an schönen Abenden im alten, von hohen Sträuchern bestandenen Garten Glühwürmchen sehen könnten und bekamen die Empfehlung, zu einer Wanderung entlang der Teufelsmauer nur ja recht früh aufzubrechen, und am besten „von links nach rechts“, vom Grossvaterfelsen bis zum Teufelmauerparkplatz bei Thale-Neinstedt, so dass sie am Ende mit dem Hund am Wasser des Flüsschens Bode verweilen könnten. Vom nahegelegenen Wanderer-Parkplatz könnte man sie abholen, sie bräuchten nur bei ihr anzurufen. Philipp und Vera liessen sich die Route auf GoogleMaps zeigen und nahmen der Vorschlag gern an:

Für den nächsten Tag stellten sie den Wecker auf sechs Uhr früh, um einen Blick auf das Wetter zu werfen und gegebenenfalls auch zeitig aufbrechen zu können. Bei einer Route von wahrscheinlich – mit Pausen – etwa drei Stunden Dauer konnten sie zwar sicher nicht den anderen Wanderern und Radtouristen entgehen, aber vor der schlimmsten Mittagshitze den Weg zu bewältigen war bei einem frühen Aufbruch doch gut möglich. Sie hatten sie Glück, und der Tag begann sonnig. Schnell war alles Nowendige in leichten Rucksäcken verstaut, sie fuhren mit dem Auto zum von ihnen gewählten Startpunkt und marschierten mit dem angeleinten Pepino den Wanderweg entlang und bewunderten die faszinierend bizarren Steinformen des eindrucksvollen, geologischen Naturmonuments, in dem auch besondere Tiere und Pflanzen anzutreffen waren.

Teufelsmauer bei Weddersleben: links der sogen. ‚Teufel‘, rechts ein Stück vom ‚Adlerfelsen‘ bzw. ‚Mönch‘

Einige Namen besonderer Felsformationen fanden sie auf ihrer Wanderkarte verzeichnet, wie Grossvater, Hamburger Wappen, Teufel, Adlerfelsen und Mönch, und sie erfanden ausserdem selbst ein paar eigene Bezeichnungen, wie „Häschen in der Grube“ – Veras Idee – oder „Sommerloch“ für eine dunkle Nische, die Pepino wegen ihres Geruchs nach Fäkalien und Abfälle erschnüffelte – Philipps naserümpfende Meinung über das schmutzige Verhalten von Menschen. Schliesslich passierten sie den Goethestein und stiegen langsam hinunter Richtung Thale-Neinstedt, bis sie endlich im willkommenen Schatten von Bäumen den kleinen Fluss namens Bode erreichten, der sich an dieser Stelle mit dem Mühlgraben kreuzt. Es war Mittag geworden und heiss. Sie tätigten den kurzen Anruf bei ihrer Vermieterin, dann stiegen sie hinunter ans Ufer, wo Pfoten und Füsse wohltuende Erfrischung im zwischen Steinen beruhigten Wasser fanden.

Die Bode zwischen Neinstedt u. Weddersleben

Pepino misstraute zwar anfangs den Geräuschen des Wassers, aber zwischen Uferkies und den ersten Steinen am Rand wagte er sogar, sich zum Trinken in das Wasser hineinzulegen. Als sie eine halbe Stunde später auf dem Parkplatz in das Auto ihrer Gastgeberin stiegen, um sich wieder zurückfahren zu lassen zum Ferienhaus, verbreitete sich darin schnell der Geruch nach nassem Hund, und Vera hatte einen weiteren Grund, nichts über das Muffeln im Häuschen zu äussern, fügten sie dem doch mit Pepinos Hilfe alsbald eine neue, eigene Note hinzu.


1.Für Christiane und andere Flusskilometer-Liebhaber: Die Bode ist ein westlicher, linker Zufluss der Saale in Sachsen-Anhalt und entspringt mit zwei Quellflüssen im Harz, durchfliesst auf ihrem Weg die Landkreise Harz und Börde, den Salzlandkreis und mündet nach 169 Kilometern bei Nienburg / Saale, womit sie letztendlich nach denm Aufgehen in Saale und Elbe Richtung Nordsee „reist“. Mit klassischen Flusskilometern scheint die Bode nicht versehen zu sein, sondern hat nur eine Einteilung in Ober-, Mittel- und Unterlauf und kompliziertere Koordinatenanggaben, die man auf normalem Kartenwerk nicht verzeichnet findet, aber der Punkt lässt sich doch definieren mit dem sogenannten Neuen Wehr der Bode zwischen Neinstedt und Wedderleben, im Landkreis Harz (Altkreis Quedlinburg) und diese Stelle zählt noch zum Oberlauf.

2. Es gibt ein paar weitere Fotos und Beschreibungen von dem Abschnitt der Teufelsmauer oberhalb von Neinstedt und Weddersleben von mir hier > AN DER TEUFELSMAUER | 2019-10-04 von Puzzleblume ❀. Die Personen und das Ferienhaus sind jedoch völlig frei erfunden.

12 Gedanken zu “Nicht allzu weit weg (7 aus 12 | Etüdensommerpausenintermezzo II-2021)

  1. Cool. Ja, genau über so was freue ich mich, und danke dir für die Ausführungen zur Bode und ihrer Kilometrierung! Wenn ich bei diesem Wehr in die Karte klicke, bekomme ich sogar Koordinaten, was mich echt entzückt. 😁
    Die Strecke klingt toll, ich würde sie auch gerne mal laufen, aber bei einer Anfahrtszeit von 3 Stunden rechnet sich das irgendwie nicht so richtig. 😉
    Danke dir, hat mich sehr gefreut.
    Nachmittagskaffeegrüße 😁🌞⛱️🌼☕🍨👍

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    • Man müsste tatsächlich übernachten. Wir haben es mit einem Wochenende in Quedlinburg verbunden, und um den langen Wanderweg zu gehen, müsste man dann noch einen Tag länger einplanen, denn selbst für uns stramme Städtetour-Fussgeher waren zwei Tage für Quedlinburg eigentlich zu wenig, man hätte mehr gebraucht. Da war das kurze Stück Teufelsmauer, das wir nur auf dem Rückweg nach Lüchow stippvisitenhaft besucht haben, nur ein Probierhäppchen. Aber es fühlt sich dort insgesamt so anders an, eben „wie echter Urlaub“, dass man sich so etwas ruhig vornehmen kann.

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  2. Pepino also. Hab ihn schon ins Herz geschlossen. Vor Gewittern hatte auch Tito einen Heidenrespekt. Kaum grummelte oder wetterleuchtete es irgendwo, strebte er dem Hause zu.

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    • Pepino ist erfunden. Die Geschichte schrieb ich schon, bevor Maxima aus Zypern zu uns kam, sie ist real bei uns eingezogen und ist für den 3. Tag schon sehr gut „angekommen“. Sie kannnst du auf meinem anderen Blog sehen und über sie lesen.
      Ein bisschen ängstlich ist sie, und scheu, aber Gewitter hatten wir zum Glück noch nicht.

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