Der Wortman hat anstelle des Fotoprojekt ABC am vergangenen Sonntag dem 30. Januar 2022 ein neues Projekt gestartet. Es ist bezeichnet mit ‚Projekt 10‘ und zum Einstieg lautet das erste Wort, das es zu bebildern und unter dem entsprechenden Wortman-Artikel als > P10 Themenwort W#01 zu verlinken gilt : Fundstück.
Was für ein tolles Einstiegswort! Seit ich aufrecht laufen kann, bin ich eine begeisterte Sachensucher- und noch mehr zufällige -Finderin, angefangen bei Steinen und Scherben, fossilen oder jetztzeitlichen Tierresten, oder überhaupt Verlorenes, Zufälliges und Weggeworfenes.
Das spektakulärste Fundstück begegegnete mir bereits > im Oktober 2014 auf einem der täglichen Spaziergänge:
Ein Wetterballon bzw. ein aerologisches Aufstiegsgespann.
Ein einzelnes Bild reicht allerdings für diesen speziellen Fund nicht aus. Ich wüsste nicht, welches Foto ich auswählen und bevorzugen sollte, damit es den Gegenstand beschreibt:
Das erste zeigt ein neonpinkorange-farbenes, zerfetztes Ding auf einem abgeernteten Feld, dessen Farbe schon aus der Ferne meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Weil ich die Taschenkamera dabei hatte, konnte ich es quer über das Feld heranzoomen. Dabei entdeckte ich die dünne, weisse Schnur.
Zunächst meinte ich, es könnte sich um einen dieser Luftballons handeln, an denen manchmal eine Nachricht mit Absender hängt. Weil ich weiss, wie sehr sich die Absender über eine Rückmeldung mit einem Gruss vom Fundort freuen, stapfte ich durch den Matsch.
Noch bevor ich den vermeintlichen Luftballon mit eventueller Karte daran erreichte, stand ich plötzlich unweit der Gummifetzen schon vor einem geheimnisvollen, polystyrol-ummantelte Päckchen, das augenscheinlich dazu gehörte, mit einer Antenne, wie man sie von ferngesteuerten Spielzeugfahrzeugen kennt. Unter einer verklebten Folie war ein beschrifteter Zettel erkennbar. Ich wickelte die lange Schnur auf, um damit auch den havarierten Ballon angeln zu können, aber leider war die Schnur gerissen und der Boden allzu aufgeweicht um dorthin zu gehen. Also nahm ich nur diesen Teil mit nach Hause. Dort breitete ich Zeitungspapier über den Tisch, legte das regennasse Ding unter die Lampe, um es beim Auspacken zu fotografieren und nahm es Schicht für Schicht auseinander:
Aussenherum gab es eine Art Banderole aus stabilem Kunststoff, daran eine stabförmige Halterung, an der die Schnur befestigt war. Diese Banderole umfasste das Polystyrolpäckchen mit dem Zettel in Klarsichtfolie dazwischen.
Aus der Unterseite des Päckchens ragte die an Kinderspielzeug erinnernde Antenne, daran ein grünes Gummiband mit nicht mehr eindeutig erkennbarer Aufgabe.
Der Zettel erwies sich als „Mitteilung an den Finder“ und informierte darüber, dass es sich bei dem Fundstück um eine Radiosonde zur Messung metereologischer Daten in der freien Atmosphäre handelte, bzw. um ein sogenanntes aerologisches Aufstiegsgespann. Darüber hinaus wurde man gebeten, seinen Fund entweder angemessen selbst zu entsorgen, da dieser seinen Zweck erfüllt hatte, oder ihn gegen Kostenübernahme an die Bundeswehr zurückzusenden.
Mit den richtigen Stichworten, wie ich sie dank des „Beipackzettels“ in den Händen hatte, liessen sich im Web eine Menge Details ermitteln. Als ich vor Jahren mit meinen Kindern die Episode der Kinder-Serie „Der kleine Eisbär“ gesehen hatte (die Folge, in der Lars Eisbär’s Freundin, das Schneegänschen Pieps, beinahe versehentlich mit einem Wetterballon davongeflogen wäre), wusste ich darüber praktisch gar nichts. Nun war es leicht zu erfahren, welche Aufgaben das Ding erfüllt hatte, bevor es wieder zu Boden ging.
Auf den folgenden drei Fotos sieht man den von der Verpackung geschützen, elektronischen Teil des sogenannten Wetterballons, die von Batterien mit Energie versorgte Radiosonde eines aerologisches Aufstiegsgespanns, das während seines Einsatzes Nachrichten übermittelte.
Die Sonde der Fa. GRAW Typ DFM-06 mit der Nummer 302764 wurde gemäß beigelegtem Zettel an einem nicht näher bestimmten Tag vormittags um 10:35 Uhr mit ihrem Ballon abgesandt, und zwar von der Wetterwarte des TruppenÜbungsPlatzes Bergen-Hasselhorst in der Lüneburger Heide, Luftlinie etwa 90 km westlich von hier.
Wegen der fehlenden Datumsangabe liess sich von mir die Flugdauer leider nicht ermitteln. Die Reste mit dem neonfarbenen Brems-Fallschirm sah ich bereits in der Dämmerung des Vorabends in der Feldmark südlich von Lüchow niedergehen und fragte mich, was es sein mochte. Allerdings flog die Radiosonde von Nordosten ein, musste demnach mehr als nur die gerade Strecke zwischen Bergen-Hasselhorst und Lüchow zurückgelegt haben.
Durchschnittlich sollen solche aerologisches Aufstiegsgespanne im Umkreis von 100-300 Kilometern wieder zu Boden kommen, in unseren Breiten meist östlich vom Entsendungsort, da die übliche Windrichtung Westwind ist.
Weil Lüchow-Dannenberg jenseits der zwar nicht undrucksvoll hohen, aber wirksamen Wetterscheide, dem Höhenzug Drawehn, und somit dem Schnittpunkt von atlantischem und kontinentalen Klima liegt, ist dieser spezielle Ballon wohl auch eine gewisse Strecke Rückweg geflogen, bis ich die Reste gefunden habe.
Eine solche Radiosonde, bestehend aus dem Sendeteil und der Sonde mit Messfühlern, die Luftdruck, Luftfeuchte und Lufttemperatur ermitteln, sowie aus dem Windversatz den Höhenwind zu errechnen ermöglichen, nimmt Messwerte direkt in der Atmosphäre und übermittelt sie im Sekundentakt, was den momentanen Zustand der einzelnen Luftschichten genauer wiedergibt, als z.B. Wettersatelliten es vermögen, deshalb werden sie, soweit ich das heute im Web ausfindig machen konnte, auch acht Jahre später noch verwendet.
Radiosondenaufstiege werden international zu regelmäßigen Terminen (00, 06, 12, 18 UTC) an festgelegten Standorten durchgeführt. In Deutschland existieren 12, auf der Nordhalbkugel ca. 700 operationell arbeitende Aufstiegsstellen, die mindestens zum 00 UTC und 12 UTC Termin Radiosondenaufstiege durchführen. In Deutschland arbeiten drei dieser zwölf Aufstiegsstellen vollautomatisch, Autosonden nennt man entsprechend deren Wetterballons.
Das Zentrum für Geoinformationswesen der Bundeswehr (ZGeoBw) mit Sitz im oben bereits erwähnten Bergen in der Lüneburger Heide bei Celle entlässt an zwei Standorten je 2x täglich mindestens 2 mit Helium oder Wasserstoff schlaff gefüllte Latexballons zur vertikalen Schichtenanalyse der Luftschichten bis in die Troposphäre. Die Verfolgung der Ballonposition zur Höhenwindbestimmung geschieht meist per Radarverfolgung oder per GPS.
Auf ihrem Weg in die Troposphäre, also bis auf ca. 35 km Höhe, entfalten sich die Ballons durch den geringer werdenden Luftdruck bis zu etwa 10 m Durchmesser. Auf der Gipfelhöhe, bei Temperaturen um -65,0 °C ist das maximal gedehnte Latexmaterial überstrapaziert, so dass der Ballon platzt und das Modul abstürzt, gebremst durch den „Fallschirm“.
Alle Teile sind durch Schnüre verbunden, wobei sich die Radiosonde ca. 30 m unter dem Ballon befindet. Das erklärt endlich auch die vielen Meter Schnur, die ich bei meinem Fundstück aufzuwickeln hatte.
In Deutschland müssen Wetterballon-Aufstiege beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt angemeldet sein: bei der Grösse eines solchen Ballongespanns ist das nachvollziehbar. Material- und sonstige Aufwandskosten betragen zwischen 300 und 400 €. Auch zurückgesendete Radiosonden werden nicht wiederverwendet, sondern ebenso dem Abfallsystem zugeführt, wie wenn der Finder sie selbst für die Mülltrennung auseinanderklamüstert, falls er sein Fundstück nicht als Souvenir behält – verboten ist das jedenfalls nicht. Manche Menschen versuchen auch, solche Gerätchen als sogenannte Sondenjäger hobbymässig zu verfolgen.
Wenn man einmal damit anfängt zu dem Thema nachzulesen … Vieles Interessante mehr findet man auf der Sondenjäger-Webseite > www.radiosonde.eu.
Das ist ja ein Ding, das man mit Fug und Recht als „Fundstück“ bezeichnen kann !
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Danke, Myriade. Neben einer Ansammlung von mehreren Pissoirs und rotsamtig bezogenen Sesseln in einem Wäldchen bei Neusiedl am See ist es wohl das aussergewöhnlichste Fundstück, das ich dokumentieren konnte. 🙂
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Haha, die Pissoirs klingen aber auch verlockend 😉
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Ja, die waren ein Gedicht.
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Ohhhhh, du hast sie tatsächlich in ein Gedicht gegossen 😉 🙂
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So etwas Besonders musste gewürdigt werden.
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Das ist ja nun mal wirklich ein echtes Fundstück der Sonderklasse 🙂
Wahrscheinlich hätte ich da auch irgendwas von behalten 🙂
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Selbst wenn man sonst kein Faible hat für technische Themen, muss man da einfach nachforschen, das ist absolut fesselnd.
Einer meiner Söhne hat es mir abgeluchst.
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Wenn ich es gefunden hätte, würde ich mich auch schlau machen wollen, was ich da alles in Händen halte.
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Du könntest Dir daraus Deinen eigenen Wetterballon bauen – oder etwas anderes um die Gegend von oben zu erkunden.
Nur noch eine paar Helium-Ballons oder Kerzen-Antrieb zum Heissluftballon kreieren – die richtige Radiowelle abchecken und schon geht es los.
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Nette Vorstellung, auf jeden Fall.
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Das ist ja mal ein Fundstück erster Güte. Gratulation! Und vielen Dank für die vielen Sachinformationen, Liebe Grüße
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Vielen Dank! Schöh, wenn es auch andere fasziniert. LG
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Ein wirklich besonderes Fundstück … mutig … ich hätte wohl eher etwas Angst davor gehabt und es nicht auseinander genommen 😉
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Ich gestehe auch, dass ich zunächst mit Respekt darangegangen bin: zuerst habe ich gegoogelt . Die Nummer auf dem Zettel war durch die Folie teilweise lesbar. In Kombination mit „Ballon““ war es schnell herausgebracht, dass mir durch Auspacken nichts um die Ohren fliegen kann.
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Wenn das nicht mal ein hochinteressantes Fundstück ist! Eine tolle Geschichte.
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Danke! Das war 2014 spannend, aber auch 2022 noch, beim Überprüfen der Noch-Gültigkeit meiner damaligen Ergebnisse.
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