Die Wanderung | zu Myriades Impulswerkstatt Mai / Juni 2024

2024-05-03 Collage Myriades Impulsbilder 1-4 + Mosaikstück 1 für Mai-Juni '24Diesen Beitrag widme ich wieder einmal den Impulsen aus Myriades Einladung zur > Impulswerkstatt Mai / Juni ’24.

Gleich mehrere der Impulse habe ich darin in irgendeiner Weise verwendet, die Schnecke (Bild 4) und die Abgründe (Mosaikstück 1) nur andeutungs- bzw. ausdrucksweise, die brauchen deshalb nicht mitgerechnet zu werden.
Aber die Holzskulptur mit den zwei Gesichtern (Bild 2) hat nicht nur für die grundsätzliche Idee gesorgt, worüber ich schreiben wollte, sondern spielt in meiner Geschichte auch eine der Hauptrollen, nämlich einmal im Original von Myriades Foto und einmal in einer von mir veränderten Version, die weiter unten zu sehen ist.
Landschaftlich versetzte ich mich in eine Gegend, an die mich das Schilf- und Kirchenfoto erinnerte (Bild 1), und ich hoffe, die Beschreibung funktioniert auch für andere. (Irgendwo hat vielleicht auch Mohn geblüht, aber erwähnt ist er nicht.)

Die Wanderung

Mittags wurde es zu heiss, um die Freude an einer morgens begonnenen, aber viel zu langen Wanderung aufrecht halten zu können. Mit dem Weg entlang des Sees hatten sie sich zu viel vorgenommen, das merkten Karola und Jürgen beide, doch statt ihre eigene Erschöpfung zuzugeben, liessen sie ihre schlechte Laune aneinander aus.

Jürgen spulte sein übliches Überlegenheitsprogramm ab und machte sich zuerst über Karolas Schneckentempo lustig, dann über ihre mit den Jahren breiter gewordenen Figur, auf die er als auf schmaleren Wegpartien hinter ihr Gehender schaute und sich so lange darüber mokierte, bis sie sich umdrehte und zurückfauchte, dass er mit Bierbauch und Glatze auch an Attraktivität eingebüsst habe und dass sie es sehr bevorzuge, vor ihm herzugehen, weil sie dann wenigstens die Landschaft geniessen könne.

Beide verstummten verletzt und liessen sich gedanklich immer tiefer auf die Abgründe des Grollens und Verabscheuens ein. Keiner von ihnen beabsichtigte, dort wieder herauszukommen, bevor der andere sich nicht entschuldigte.

Gerade durchwanderten sie eine angenehm ebene, vom Mittagslicht sehr helle Partie am Rande des Schilfgürtels. Ein weisser Kirchturm spitzte darüber hinweg, und verriet, dass es ein dazugehörendes Dorf geben musste, mit den landschaftstypischen, niedrigen Häusern.

Insgeheim hoffte Jürgen ebenso wie Karola, dass der Wanderweg sie dorthin leitete. Vielleicht kam man sogar an einen erfrischenden Brunnen oder ein Gasthaus, wo man wie selbstverständlich rasten konnte, ohne den anderen erst bitten zu müssen, etwas dergleichen zu suchen.

Tatsächlich führte der Weg das verbissen schweigende Ehepaar auf eine mittagsstille Dorfstrasse, flankiert von den Längsseiten ebenerdiger Häuser, eines an das andere gereiht, und optisch nur von Torbögen unterbrochen. Hier und da kletterten an Rankgittern Weinreben oder gelbe und rote Rosen. Selbst ein Storchennest fehlte nicht und auch nicht das in der Nähe der Kirche gelegene Gasthaus.

Erleichtert steuerte Karola den Gastgarten mit seinen schattenspendenen Pergolen an.
Jürgen folgte stillerfreut und bestellte bei der aus dem Haus kommenden Bedienung als Versöhnungsangebot zwei grosse Gläser „weisse Spritzer“ und eine grosse Bretteljause. Seine Kompetenz in am Urlaubsort beheimateten Ausdrücken gab ihm immer Aufwind und so auch heute. Jürgen sonnte sich in der Empfindung, das Lächeln der jungen Frau sei beifällig und hoffte, auch Karola hätte die Wirkung seiner charmanten Persönlichkeit bemerkt.

Vielleicht hatte sie das, aber weil sie im Begriff war, nach der getätigten Bestellung die Toiletten aufzusuchen, und zu diesem Zweck ein paar kleine Dinge aus ihrem abgelegten, kleinen Wanderrucksack zu entnehmen, war in ihrer Miene nichts davon abzulesen, als sie ankündigte, sie sei gleich wieder zurück.

Untätig sass Jürgen auf der Bank am Tisch und schaute herum.
Sein Blick fiel auf eine Holzskulptur von zwei einander zugewandten, aber missmutigen Gesichtern.
Die Bedienung kam gerade mit dem Tablett, als er mit dem Handy ein Foto davon machte. So wurde ihm erklärt, dass einer der alten Walnussbäume abgestorben war und abgesägt werden sollte, aber ein ortsansässiger Künstler habe sich angeboten, ihn zu bearbeiten, und dies sei das Ergebnis.

Jürgen monierte gerade, dass die beiden Gesichter nicht lächelten, als Karola aus dem Haus zurückkehrte. So hörten sie beide die Erklärung, dass der Künstler damit die Betrachtenden darauf hinweisen wollte, dass Gemeinsamkeiten stärker verbinden als Verstimmungen trennen können, und wo könnte so eine Skulptur besser platziert sein, als in einem Garten, in dem man es sich miteinander gutgehen lassen konnte?

Nachdem die Speisen und Getränke serviert waren, blieben Karola und Jürgen verlegen am Tisch zurück.
Karola ärgerte sich gerade darüber, dass Jürgen am Handy herumtippte, als ihr eigener Signalton eine eingegangene Nachricht meldete. Immernoch etwas pikiert holte sie ihr Handy hervor und fand als Nachricht ein eilig bearbeitetes Bild der Skulptur, auf dem die Gesichter einander freundlich ansahen.
Unwillkürlich lächelte auch sie und hob ihr Glas, um mit Jürgen anzustossen.

Myriades Impulswerkstatt Mai-Juni'24 Impulsbild 2 img_2360 bearbeitet, Holzköpfe m. Lächeln)

18 Gedanken zu “Die Wanderung | zu Myriades Impulswerkstatt Mai / Juni 2024

  1. Eine sehr realistische Erzählung über Szenen einer Ehe, mit freundlichem Ausgang, was ich zuerst so nicht erwartet hatte. Toll geschrieben und wirklich gut die Kurve gekriegt, Heide! 🙂 Viele Grüße Bea

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        • Statistisch ermittelt streiten sich die meisten Paare im Urlaub, davon 27% richtig ernsthaft, jede dritte Scheidung soll nach einem Urlaub eingereicht werden, weil sich die Paare kein Miteinander mehr vorstellen können.
          Bei meinen beiden gibt es Einsicht, Kommunikation und Kooperationsbereitschaft statt Nachtreten – die mögen sich noch.

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  2. Genial, deine Bildbearbeitung ! Die Geschichte gefällt mir auch sehr. Wenn man in blöden Situationen so die Kurve kriegt, muss man sich um die Beziehung keine Sorgen machen. Noch besser wäre es einander nicht gegenseitig anzugranteln, aber wer ist schon perfekt 😉 Mir scheint die beschriebene Wanderung hat im Burgenland stattgefunden, die Straßendörfer, die Spritzer und die Brettljause…. Danke dir für die Geschichte !

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  3. I

    Eine sehr schöne Wendung nimmt deine Geschichte. Ich lese sie erst jetzt, nachdem ich meine eigene „Bearbeitung“ des Paars verfasst habe. Deine wirkt doch viel überzeugender.

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