Künstler der Langsamkeit ___@!!

Dies ist eine ganz alte Geschichte, so alt, dass es gut dazu passt, wie lange es brauchte, um sie hier zu erzählen:

Künstler der Langsamkeit – oder: Warum es Schnecken nicht eilig haben.

Eines Tages endete der Weg einer Schnecke vor einem Bahndamm. Da saß sie nun und schaute zu, wie die Züge vorbeisausten.
In Wirklichkeit war es kein so befahrenes Gleis, aber immerhin kam alle drei Stunden ein Zug vorbei, manchmal war es auch nur eine Rangierlok, aber für die Schnecke war es ein großes Problem: Wie konnte sie heil die Schienen überqueren, ohne von einem Zug zermalmt zu werden? Ratlos verharrte sie auf einem großen Sauerampferblatt, nagte nachdenklich ein bisschen daran und verzog sich schließlich in ihr Schneckenhaus, um die ganze Sache in Ruhe zu überdenken. Darüber schlief sie ergebnislos ein.

Auf einmal spürte sie, wie ihr lange Beine aus dem Schneckenleib wuchsen, und es wurde ganz einfach, auf ihnen über die Gleise zu krabbeln. Aber gerade, als sie sich dazu anschickte, wachte die Schnecke auf. Sie befand sich nach wie vor auf dem großen Sauerampferblatt und hatte ihre langen Beine nur geträumt.
Schade, dachte die Schnecke seufzend. Dann nagte sie noch ein bisschen am Sauerampfer, denn daß sie viel Kraft brauchen würde, um schnell über die Schienen zu gelangen, stand einmal fest.

Während die Schnecke so nagte und grübelte, beobachtete sie das Leben am Bahndamm: da oben im Himmelsblau trillerte eine Lerche, stieg dabei auf und nieder, mal rechts, mal links des Bahndamms, in der Ferne kreiste ein Raubvogel, dort drüben im Ginstergestrüpp raschelte es, und ein Kaninchen hoppelte schnell über die Schienen und verschwand hinter dem Erdhügel auf der anderen Seite. Und da … – Oh, Hilfe! – da sass ein Amsel im Strauch über ihr!

Hoffentlich war sie satt, die Amsel, denn die Schnecke wusste sehr gut, dass sie sonst auf der Amselspeisekarte ganz oben stünde.
Vorsichtshalber zog sie ihre langen Fühler ein Stück ein, bevor sie ihren Gedanken weiter nachhing.
Ein Vogel hatte es doch leicht: er war in der Lage, einfach über der Bahnlinie hin- und herzufliegen, ohne daß ihm etwas geschehen konnte. Und auch das Kaninchen … husch! und schon war es fort. Aber sie als Schnecke konnte nun einmal nicht fliegen und nicht laufen. Das sähe aber auch ganz unpassend aus … Aber immerhin wäre es doch nett, fliegen zu können, dachte sie. Nach einigen Happen Sauerampfer zog sie sich in ihr Haus zurück und träumte von Flügeln.

Als sie erwachte, war es Nacht. Das Mondlicht hauchte Silber über die Landschaft.
Wie hübsch! sagte sich die Schnecke. Da möchte ich direkt ein bisschen spazierengleiten. So zog sie hinter sich eine silbrigschimmernde Schleimbahn bis zum nächsten Löwenzahn. Sie blickte zurück – und Stolz erfüllte sie, als sie entdeckte, wie schön ihre Spur im Mondlicht glitzerte. Auf einmal wusste sie, dass sie den Vögeln ihre Flügel nicht länger neidete, denn sie hatte ihnen etwas voraus, das nur sie, die Schnecke, konnte: Sie konnte mondlichtsilberne Spuren malen!

Entzückt glitt sie von ihrem Löwenzahnblatt weiter zum nächsten, dann über einen Stein, zwischen Gräsern hindurch erklomm sie schließlich vorsichtig einen kleinen Strauch, von wo sie stolz auf ihren schimmernden Weg zurückschaute.
Da erschien es ihr gar nicht mehr so wichtig, so hurtig wie die anderen Tiere die Bahngleise zu überqueren, denn jetzt wollte sie ihren Weg ganz langsam genießen und silberne Muster auf Blätter und Steine malen. Wenn sie dabei zufällig einen sicheren Weg auf die andere Seite entdecken sollte – gut, sie hatte nichts dagegen, solange auch dort der Mond schiene. Aber bis dahin …
Zufrieden knabberte die Schnecke an einer süßen Erdbeere und zog sich nach dem Mahl gemütlich auf ein Nickerchen in ihr Haus zurück.

Darum sind die Schnecken bis heute noch nicht schneller geworden als vor tausendfünfzig Jahren, wo eine Urahnin dieser Schnecke ein ähnliches Erlebnis an einer Römerstrasse hatte. Sie wandern noch immer scheinbar ziellos in der Welt herum, überall auf ihrem Weg am Ziel und zuhause.

Die Geschichte ist eigentlich schon älter, ich habe sie schon vor Jahren geschrieben, aber ich mag sie immernoch sehr.

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