Die Frau mit dem Glasauge

Gerne nehme ich an der 26. Runde von > Myriades Impulswerkstatt teil und habe mich ausserdem der Herausforderung gestellt, meinen Text auf 300 Wörter zu beschränken und mit Christianes > Schreibeinladung für die Textwochen 10 bis 14 ’24 und meiner Wortspende Abendbrot, heimatlos, auszeichnen zu verknüpfen.

Die Frau mit dem Glasauge

2024-03-10 Myriades Impuswerkstatt Bild 3 MurmelDas Glasauge mit der grünlichen Iris wachte nachts im Wasserglas neben dem Bett, wenn meine Urgrossmutter schlief, im Haushalt ihrer ältesten Tochter und Mutter meiner Mutter, bevor der Krebs sie mit weniger als siebzig Lebensjahren ganz und gar vereinahmte.

Bis zu ihrem Lebensende lebte die Bürgerstochter aus Friedrichroda an vielen Orten, lernte ihren Beruf als Köchin in Erfurt, heiratete in Weimar und folgte mit ihrem Mann und den ersten beiden Kindern dem Arbeitgeber für einige Jahre nach London.
Die dort erworbenen Englischkenntnisse und Ersparnisse sollten sie nach Amerika führen, die Pläne scheiterten jedoch.

Die Familie blieb längere Zeit in Hamburg, später lebten sie in einem eigenen, schmalen Haus in Buxtehude, wo ihre vier Kinder erwachsen wurden. Die Krankheit nötigte meine Urgrossmutter zu einer vorletzten Reise zu ihrer an den Arendsee verheirateten Tochter, als Verstorbene kam sie per Bahn aus der Altmark wieder nach Hamburg.
Ihre Biografie beschreibt nur eines der Beispiele dafür, weshalb ich meine Familie als „heimatlos“ bezeichne.

Bis in meine Grosselterngeneration hinein stammten mütterlicherseits alle aus Handwerkerfamilien. Nicht alle Söhne konnten sich am Heimatort niederlassen, sie zogen mit dem Gesellenbrief in der Tasche fort. Die Töchter lernten als Haustöchter oder Hausangestellte das Hauswirtschaften für die Ehe oder als Berufstätigkeit, beides führte auch sie mehr oder weniger weit vom Geburtsort fort.

Mein väterlicher Familienzweig lebte in kleinbäuerlicher Abhängigkeit von den gutswirtschaftlichen Herrschaftsverhältnissen, durch die sich die ländliche Struktur Ostpreussens und Pommerns auszeichnete.
Einzelne Männer fanden nach dem preussischen Militärdienst den Weg in die Verwaltung, später bot die Eisenbahn eine Alternative, mehrfache Ortsveränderungen gehörten dazu.
Bot sich die Gelegenheit, arbeiteten die Töchter als Angestellte auf den Gütern. Zum Abendbrot von einem Teller zu essen, statt Pellkartoffeln aus der Tischmulde zu ergattern, ist nur ein Symbol für die Vielzahl von Gründen.

Zu wollen, was man braucht, ist ein erlerntes Erbe, scheint’s.

(300 Wörter)

11 Gedanken zu “Die Frau mit dem Glasauge

  1. Ich wüsste gerne, ob sich deine Altvorderen als „heimatlos“ empfunden haben.
    Ich erinnere mich nicht, ob meine Mutter als Ostpreußenflüchtling sich ihr Leben lang als heimatlos sah. Der Heimat hat sie nachgetrauert, ja, aber sie hat Wert darauf gelegt, nach vorne zu schauen, nicht zurück.
    Je mehr Etüden dazu eintreffen, desto mehr mag ich deine Wortspende. Danke auch dafür.
    Grauhimmelige Vormittagskaffeegrüße ☁️💻☕☕🍪

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    • Auch mein Vater und seine Mutter waren Ostpreussenflüchtlinge, auch weitere Menschen, die ich nur als Kind getroffen habe, ausserdem meine erste Schwiegermutter.  Sowohl ihre Herkunft als auch Teile meiner eigenen bezogen sich auf die aus Österreich vertriebenen Salzburger Exulanten im 18. Jh., das Zurechtkommen mit Entwurzelungen hat also lange Tradition, auch wenn diese Art von Entwurzelung von einer anderen Verlustqualität geprägt war und mit anderen Belastungen einherging, als das moderne pragmatische Nomadentum, das ich selbst in meinem Leben praktiziert habe.

      Was ich aus Gesprächen mit anderen Flüchtlingsnachfahren weiss, ist, dass diesen Menschen ein teilweise schon bösartiges Unwillkommensein entgegengebracht wurde. Auf dem Lande muss das heftig gewesen sein, selbst innerhalb von Familien. Es wurde versucht, den Kindern zu verheimlichen, damit sie sich damit nicht auseinandersetzen mussten.

      Mein Vater hat im Rentenalter seine alte Heimaten – auch die Eltern sind schon zwischen Ostpreussen und Pommern mehrfach umgezogen – besucht und kam enttäuscht zurück, weil so vieles nicht mehr existierte. Von den Eltern und Grosseltern meiner Mutter weiss ich, dass Heimat kein Thema war: man ging dorthin, wo man eine Zukunft hatte.

      Meine Eltern wurden in den 50er-Jahren unfreiwillig zu Ostzonenflüchtlingen; sie waren genötigt, ihren Zukunftsort zu verlasssen, weil mein Vater als Bekannter eines als zu pro-westlich eingestuften jungen Mannes seinerseits von Gefängnis bedroht war. Meine Kindheitsfamilie ist berufsbedingt mehrfach umgezogen, mein Mann blickt auf ähnlich bewegliche Verhältnisse zurück, wenn auch ohne das Flüchtlingselement. Wir haben Kinder, die mit uns grosse Ortswechsel kennengelernt haben, die ihnen nicht zum Nachteil gereicht haben. Es wird sich wohl so fortsetzen.

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  2. Eine fantastische Assoziation dieses Glasauge ! Nimmt oder nahm man die tatsächlich für die Nacht heraus ?

    Finde ich toll, wie du deine Familiengeschichte tatsächlich in 300 Wörtern untergebracht hast obwohl das ja eine räumlich sehr bewegte Geschichte ist. Mir kommt vor, dass man je länger man über den Beigriff „heimatlos“ nachdenkt, immer mehr zu dem Schluss kommt, dass dieses Gefühl sehr individuell ist. Die Erfahrung deines Vaters mit dem Zusammenprall seiner Erinnerungen und der aktuellen Realität, werden wohl viele gemacht haben und immer wieder machen

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    • Ja, das hat man wohl getan. Man kann im Netz auch zur modernen Augenprothetik lesen, was man sonst nie erfahren würde und sich nicht vorstellen kann.
      Zu dem Schluss bin ich auch gekommen, dass die Unterschiede des Empfindens sehr breit gefächert sind.
      Ja, diese Erfahrungen kenne ich auch aus anderen Berichten.

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  3. Das Wort Heimat gibt anscheinen einen Halt. Unsere Freunde und Nachbarn sind zur Zeit in Wisconsin, USA. Wenn ich die Bilder sehe, die er regelmässig über Facebook schickt: im Bereich Madison (und wohl weit darüber hinaus) gibt es noch Kaufläden, Bäckereien, Brauereien, Gaststätten mit deutschen Namen. Tradition und Heimatdenken gehen da wohl eine enge Bindung ein, die als die schöne alte Zeit eingestuft werden.

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    • So eine Verortung in die Vergangenheit der eingewanderten Vorfahren ist auch ein Bedürfnis. Es wird niemenden wundern, wenn ich an dieser Stelle anfüge, dass ich über die Auswandererwellen des 19.
      Jhs. buchstäblich entfernte Verwandtschaft aus verschiedenen Familienzweigen in USA und Australien habe.
      Heimatdenken steht sicher auch mit hinter kulinarischen Wünschen, aber der vertraute Geschmack von Brot oder Schwarzwälder Kirschtorte ist oft doch viel vordergründiger. Ich habe mir nach Österreich Care-Pakete mit Lakritze schicken lassen und Besucher um ganz bestimmte Gewürzgurken und Rote Beeten-Mitbringsel gebeten, weil mir die österreichisch-ungarischen Säurevorlieben bei diesen Produkten zuviel waren. Jetzt erbitte ich mir österreichische Produkte als Mitbringsel, die es hier nicht gibt.

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      • Ja, die Essensvorlieben sind tatsächlich ein Thema. Wir haben uns Schwarzbrot nach Mittelamerika schicken lassen, und noch heute muß unsere Schwägerin aus Oldenburg uns mit Knipp (siehe meine Etüde) und Pinkelwürste für unser traditionelles Grün-Kohl Essen versorgen und an Weihnachten Kartoffelsalat mit Bockwurst und Heringssalat gegessen werden. Da sieht man einmal mehr die Verbindung zu Tradition und eigenem Erleben.

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        • Wir wechseln uns Weihnachten immer ab mit Kartoffelsalat u. Würstchen oder Käsespätzle mit Salat. Mein Mann und ich haben ja auch verschiedene Hintergründe. Vielen Argumente, die in der Heimatlosigkeitsdiskussion angeführt wurden, kann ich nicht folgen, aber jemand führte das Argument der Wohlfühllandschaft an, und das kann ich bestätigen.

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