Rosi – zur Schreibeinladung TW 08.09.21 | Wortspende v. wortgeflumselkritzelkram

Zu Christianes > Schreibeinladung für die Textwochen 08.09.21 | Wortspende von wortgeflumselkritzelkram | Irgendwasistimmer kommen die Stichworte von Sabine (Frau Flumsel) mit ihrem Blog’Wortgeflumselkritzelkram‘: Strickjacke + trügerisch + entdecken. Diese drei Begriffe sind in maximal 300 Wörtern zu verpacken.
Zuerst musste ich ein wenig überlegen, für welche Strickjacke ich mich entscheiden sollte: eine ausgedachte oder eine, die mir persönlich bekannt und begegnet ist. Schliesslich entschied ich mich, über ein sehr altes, eigenes Kleidungsstück zu schreiben, das ich sogar noch in einer Schachtel aufbewahre, und als eigenes Etüdenbild ein Familienfoto aus einem alten Album zu verwenden, dem Anlass und Inhalt meiner Erzählung angepasst, denn das Kind auf dem Bild bin ich.

2021-02-23 'Rosi' + ich + Puppenwagen ca. 1965 bearb. f. ABC-Etüden TW 08.09.21 Strickjacke+trügerisch+entdecken (kl.) Rosi

An einem Weihnachtsabend wurde sie mir beschert: eine “lebensgrosse” Babypuppe, riesig, wenn man erst vier Jahre alt ist und bis dahin mit der weichen Puppe Ilona gespielt hat, die bequem in den kurzen Kinderarm passte. Die grosse Puppe trug meine Babysachen – Strickjacke, Mütze und Strampler in Weiss mit Rosenstickerei und Lammfellschühchen – also bekam sie den Namen Rosi. Beim kürzlich fortgezogenen Nachbarsmädchen hiess sie Paul. Eltern glauben, kleine Kinder merken nichts; tun sie wohl.

Rosi war unhandlich, blökte, wenn man sie hinlegte oder aufnahm, dabei klapperten die blauen Schlafaugen mit steifborstigen Wimpern im Puppenkopf. Ihre Glieder quietschten erschreckend und unter der Kleidung entdeckte ich blätterige Schweissnähte. Gern hätte ich sie Kindern, die zu Besuch waren und mit Rosi weiterspielen wollten, mitgegeben, aber meine Eltern boten ihnen stets Ersatz an, den ich lieber behalten hätte.

Zu meinem Oster-Geburtstag bekam ich einen grossen Puppenwagen. Bis dahin hatte ich nur einen kleinen Stubenwagen aus Weidengeflecht, mit Holzrädern und Stoffverdeck. Der neue war strassentauglich und es gab keinen Grund mehr, weshalb ich nicht beim Sonntagnachmittags-Familienspaziergang Rosi darin vor mir herschieben sollte, jeden Sonntag, natürlich. Mein Bruder balancierte über Mäuerchen, hielt beim Familienfoto höchstens einen Ball unter dem Arm, ich sollte mit Rosi posieren. Gern flüsterte er dann leise „Paul“ und freute sich, wenn der Vater wegen des verpatzten Bildes schimpfte. Mein Etüdenbild zeigt nur einen solcher trügerischer Heile-Welt-Momente. Gegen die Mitnahme zu protestieren, war sinnlos.

Als ich zuhause auszog, liess ich die Puppen zurück, und weil auch keine Cousinen mehr im Puppenalter waren, erwarteten sie mich nach dem Tod meiner Eltern auf dem Dachboden, Ilona und Rosi-Paul: die eine immer noch niedlich, die andere augenklappernd, scheppernd und mit kreischenden Gelenken, als ich ihr die Mütze, die kleine Strickjacke und all das andere auszog, was ich zusammen mit der kleinen Ilona als Andenken behalten wollte.

300 Wörter

27 Gedanken zu “Rosi – zur Schreibeinladung TW 08.09.21 | Wortspende v. wortgeflumselkritzelkram

  1. Typisch Mädchenerziehung, die lebensgroße Puppe, der Puppenwagen, die Verpflichtung, damit spazieren zu gehen. Ich habe immer lieber mit Stofftieren gespielt, lese ich deine Etüde, weiß ich auch wieder, warum … Bisschen gruselig, das alles. 🤔😉
    Danke fürs Erinnern!
    Abendgrüße 😁⛅🍲🍷👍

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    • Danke, Christiane! Es ist ja zum Glück Vergangenheit, und kommt so hoffentlich auch nicht wieder.
      Meine Lieblinge waren auch stofftierisch. Puppen wurden für mich erst interessanter, als ich mit meinen Spielfreundinnen für Spiele unsere Puppen szenisch miteinander handeln liessen, sie behäkelten und „ihnen“ mit dem Esbitherd Wurtscheiben brieten, die wir selbst gegessen haben. Ähnliches haben wir auch mit Mainzelmännchen oder Plüschtieren und sogar namentragenden Flummis gemacht, da stand das Erdenken von abenteuerlichen Szenen im Vordergrund, nicht das typische und anscheinend so erwünschte „Mamaspielen“. Die Familie meiner Freundinnen war mir immer ein gutes und befreiendes Gegengewicht, wo die eigene Erziehung zu altmodisch war.

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    • Ja, das war schon ziemlich verknöchert. Wie im Kommentar an Christiane oben geschrieben, hatte ich das Glück, zum Spielen sehr oft bei meinen Freundinnen sein zu dürfen, wo bei fünf Kindern ein sechstes auch nicht weiter ins Gewicht fiel, aber eine ganz andere Erziehung vorgezogen wurde.

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  2. Dein Bild zur Etüde mag ich sehr, das Gesicht des Mädchens zeigt wenig Begeisterung, wie auch?
    An Sonntagsspaziergaenge mit Sonntagsschuhen und -kleidern erinnere ich mich auch nur ungern.
    Bild und Geschichte erzählen viel von dem Geist der Zeit, in der wir aufwuchsen.
    Herzliche Grüße
    Ulli

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  3. Ich bekam einen Peter mit einem Pappmachékopf und den habe ich begeistert spazierengefahren – seine Nase war bald eingedrückt – die widerstandsfähigen Schildkrötpuppen gab es erst später und da bekam ich eine ganz kleine Negerpuppe, heiß geliebt und leider nicht mehr vorhanden – und meine Puppensammlung habe ich mit 24 Jahren angefangen – das Verhältnis Jungen: Mädchen 2:7
    Einen Teddy hatte ich leider nie, auch der zog erst im Erwachsenenalter ein und natürlich nach der Geburt der Tochter die Stofftiere, die sie mehr liebte als meine Puppen.
    Das traditionelle Rollenspiel – zum Glück ist das aufgehoben –
    Morgengruß vom morgendlichen Sonnendach vom immer noch (alten) Kind Karin

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    • Danke, Karin, für deine Erinnerungen!
      Dunkelhäutige Puppen kamen zwar später in die Kritik, aber ich hatte auch eine, die ich sehr mochte und finde dunkelhäutige Puppen, die ein Kind in einer vorwiegend hellhäutigen Gesellschaft um ihrer selbst willen liebt, alles andere als rassisitisch.

      Meinen alten Teddy habe ich immernoch, der früher mein Bett bewacht hat.
      https://2puzzle4.wordpress.com/2008/07/12/das-ist-er/

      Dass man sich als Erwachsene auch noch mal einen Stofftierwunsch erfüllt, kenne ich selbst auch. 🙂
      Sonnige Grüsse aus dem Wendland!

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      • Ich habe mit Absicht nicht das heute korrekte Wort „dunkelhäutig“ genommen, damals waren es Negerpüppchen und wir Kinder waren fern von rassistischem Gedankengut. Ich verurteile auch heute das Umschreiben der Kinderbücher – als Erwachsener kann ich meinem Kind erklären, warum das damals so und so geschrieben wurde; diese Überkorrektheit ist mir oft zu penetrant . Aber das ist meine subjektive Meinung. Ich werde meine Puppen demnächst mal bei mir vorstellen, da hast Du mich auf eine Idee gebracht.
        Wunderschön ist Dein alter Teddy!
        Lieber Gruß von mir, Karin

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        • Das Erklären würde den Unterschied machen, aber es nimmt sich ja kaum einer Zeit dafür, alles muss vorgefertigt und gebrauchsfähig sein, „selbsterklärend“ für auf sich selbst gestellte, Erziehungsinstitutionen und leistungsorientierten Freizeitgestaltungen in Obhut gegebene Kinder. So gesehen beobachte ich nur Rückschritte und ich bin da durchaus bei dir.

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  4. Oh jeee, ein bisschen sehe ich das kleine Mädchen, das Du damals warst, auch als dressiertes Püppchen. Sonntagsspaziergang mit Puppenwägelchen, weil von den Eltern so gefordert. Nein, hier hatte ich das Glück, mehr Freiheit erleben zu können. Das weiß ich nach dem Lesen Deiner Etüde umso mehr zu schätzen!
    Liebe Grüße
    Ines

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        • Du darfst nicht vergessen, um welche Art Text es sich handelt. Ich schreibe darin keine exakte Autobiographie, sonderen verwende sie nur auf eine erzählerische Textaufgabe, bei der 300 Worte nicht überschritten werden dürfen. Dass durch Streichungen aller womöglich relativierenden Elemente eine Überspitzung zustande kommt, ist eine dramatische Begleiterscheinung, zu der man sich auch überwinden wollen muss. Alle Interpretationen sind möglich, aber nicht immer so konzentriert zu verbrauchen, wie ich sie in stundenlanger Arbeit eingedampft habe.

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  5. Man denkt diese Zeit ist vorbei und dann gehe ich mit meinem kleinen Jungen und seinem Puppenwage auf den Spielplatz und eine Mutter – bestimmt 20 Jahre jünger als ich – nimmt mich zur Seite und bewundert meinen „Mut“, meinem Sohn solches zu schenken.

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    • Es greift eine unangenehme Rückschrittlichkeit um sich. Meine Kinder sind in den 90ern geboren, da war gerade eine ÜbergangsZeit. Anfang der 90er gab es keine Jungs- und Mädchen-Farben, keine ausgesprochen separierten Spielzeug-Kodexe, Ende der 90er dagegen war es kaum noch möglich, etwas zu bekommen, das nicht durch Farben oder Aufdrucke festgelegt war, und das Barbie-Rosa hatte die Mädchen im Griff, und es wird nicht besser, selbst die Gender-„Erleichterungen“ scheinen eher eine Verschärfung des Drucks zum Definitven-Demonstrativen erreicht zu haben, anstelle von gelassenem Umgang mit dem, was jemand gerade tun oder ausprobieren möchte. Ach, ich könnte mich aufregen …

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    • Danke, Doro! Phantasie sucht nicht jeden auf dieselbe Weise heim, und ich vermute, das Kreischen von Puppengliedmassen ist ein gutes Beispiel dafür. Die Sonntage in den 60ern waren echt öde, nicht nur meine. Man durfte bei uns in der Kleinstadt auch nicht draussen mit den anderen Kindern auf dem Spielplatz oder im Hof spielen wie sonst auch, oder sich gegenseitig besuchen und drinnen, zuhause auch nicht laut sein. Diese traditionelle „Sonntagsruhe“ damals war dämlich.

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