Vor dem Dunklem Tor (am 2. Tag in Gent)

Kurz vor dem > Rabot kann man über die Sint-Antoniusbrug die Lieve überqueren und so vom Sint-Antoniuskaai zum Prinsenhof gelangen, bzw. den Resten des prinselijk hof ten Walle, den die Grafen von Flandern und ihre Nachfolger wohnlicher gefunden hatten als die Burg Gravensteen. Dort war 1477 die Hochzeit von der Maria von Burgund mit Maximilian von Habsburg gefeiert worden, 1500 war es Geburtsort von deren Enkel, Kaiser Karl V., von dem gleich noch die Rede sein wird.
Von diesem eigentlichen Prinzenhof steht aber heute nur noch das Donkre Poort, das ‚Dunkle Tor‘. Es ist auf dem großen Bild zu sehen. Seinen finsteren Namen hat es allerdings nicht wegen finsterer Ereignisse in früheren Zeiten erhalten, sondern erst im 19. Jh. wegen des darauf abgelagerten Drecks der frühen Industrialisierung.

Nur wenig entfernt steht eine Bronzeplastik auf dem Rasen. Zuerst dachte ich, es handele sich um eine Frau mit Zopf, aber als ich darum herumging, hat mich der Blick nach weiter unten sehr überrascht – nicht nur weil es sich um einen Mann handelt, sondern auch, weil die vorbeigehenden Menschen mit der Sitte, an Bronzeplastiken die hervorstehenden Teile (wie beispielsweise Zehen oder Löwennasen), im Vorbeigehen zum Zwecke des Glücksgewinns zu reiben, auch hier der Bronze zu goldenem Glanz verholfen haben.
Soviel zum eindeutig männlichen Geschlecht der Skulptur, fehlt nur noch die Geschichte dazu. Es ist ja auch kein Zopf auf dem Rücken, sondern ein nach hinten baumelndes Seil, dessen Schlinge er um seinen Hals trägt!
Die Figur des Stroppendrager erinnert an ein Ereignis im alten Gent des 16. Jhs., nach dem Genter Aufstand : 1537 weigerte die in einer wirtschaflichen Rezession befindliche Stadt sich, Kaiser Karl V. mit zusätzlichen Steuerabgaben in seinen Kriegen Unterstützung zu leisten. Der Kaiser war am 24. Februar 1500 im Genter Prinzenhof geboren, reagierte jedoch seinen Machtvorstellungen gemäss mit grosser Härte, schlug den Aufstand nieder und liess zur Strafe am 17. Februar 1540 auf dem Gravensteen 25 der Anführer köpfen. Bei nachfolgenden Verhandlungen entzog er der Stadt und den Gilden ihre mittelalterlichen Privilegien und Waffen und verlangte für den am 3. Mai 1540 zur Unterwerfung einen Bussgang vom Rathaus zum Prinsenhof, an dem 20 Honoratioren von Gent, 318 Gilde-Vertreter der Handwerker und 50 Weber nach genauen Kleidungs-Vorschriften teilzunehmen hatten. So hatten 50 in weissem Hemd und mit einem Strick um den Hals den Bussgang zu beschliessen, als Zeichen, dass auch sie den Tod verdient hätten.
Die Schlinge („strop“) um den Hals entwickelte sich zum Spottnamen „Stropdrager“ für Genter Bürger, entgegen den Absichten des Kaisers aber auch zum Inbegriff für das beharrliche Selbstbewußtsein der Stadt Gent.
Nachdem sich auf den – seit 1843 abgehaltenen – Gente Festen in den 70er Jahren Personen in einer Bierlaune mit Hemd und Strick verkleidet hatten, wurde aus der Idee 1973 ein nichtpolitischer Kultur-Verein geboren, die Gilde van de Stroppendragers, die seitdem mit einem kostümierten Festumzug an dem grossen Stadtfest teilnimmt.
1986 wurde von diesem Verein ein Künstlerwettbewerb initiiert, den der Entwurf von André Vermeersch gewann.
Ausgeführt wurde dieser Entwurf als einsachtzig hohe und einhundertachtzig Kilo schwere Bronzeskulptur vom Genter Bildhauer Chris Demangel, die im September 2000 mit Blickrichtung auf das Donkre Poort, aufgestellt wurde, vor dem Dunklen Tor zum Prinsenhof, dem Geburtshaus Kaiser Karl V., wo auch eine 1966 von der Stadt Toldeo geschenkte > Bronzeskulptur des Kaisers steht.
Mit dieser steht der Stroppendrager seitdem in einem vom Besucher zu erlaufenden > Dialog : vorn schutzlos im Büsserhemd und mit dem Strick um den Hals, doch auf dem Rücken mit der trotzigen Feigenhand.

 

12 Gedanken zu “Vor dem Dunklem Tor (am 2. Tag in Gent)

  1. Hi puzzleblume…i live in Ghent for 55 years…i know my hometown quit well…although the past days you have made me see things that i v’e never seen before . Just like this statue above…i never saw it…Also the pictures you’ve made through the window of you’re hotelroom…. a view over the roofs… Thank you for it.

    Have a nice weekend,
    Greetings Geert

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    • Hi, Geert – I was kind of waiting and hoping for some words by you like this, because a hometown is a thing of hearts. You chose a beautiful place to be!
      Best wishes, ‚puzzleblume‘ Heide

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  2. Interessante Geschichte, die in der Realisation dieser Skulptur mündet. Nebenbei hatte ich die Idee, dass man in Belgien ein Faible für (kleine) männliche Attribute hat. 😉

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    • Im barock-rustikalen Sinne eingängiges Mittel zum Verdeutlichen der Aufs und Abs im Leben,
      Hier hilft es aber auch, das lange Hemd nicht als Frauenkleid zu identifizieren und, wie ich als in Genter Geschichte ahnungsloser Besucher, Aussehen und Aussage der Skulptur hinterfragen zu müssen.

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    • Leider wäre eine 1:1-Wiedergabe der vielen interessanten EInzelheiten zu lokaler- und kaiserlicher Geschichte zuzuüglich der Entstehungsgeschichte von Tradition und Kunstwerk viel zu lang geworden, aber wie der Zufall es will, tauchen später immer wieder mal Bezüge hierzu auf, das Entdecken der Strickträger-Skulptur stellte sich als gleichnishafter „Elefantenschwanz“ heraus.

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