Erinnerungsvermögen – zur Schreibeinladung für die Textwochen 20.21.21 | Wortspende von Red Skies Over Paradise

Dies ist meine 1. Etüde zu Christianes > Schreibeinladung für die Textwochen 20.21.21 | Wortspende von Red Skies Over Paradise, Bernd stiftete die Worte: Baracke + lau + widerfahren.
Die 3 Begriffe müssen in einem Text von maximal 300 Wörtern verwendet werden. Eventuelle Inhaltshinweise und die Überschrift zählen dabei jedoch nicht mit.

Erinnerungsvermögen

Wegen der neuen Wortspende erinnerte ich mich an sepia- und grautönigen Fotos, die dem Familienalbum erst hinzugefügt wurden, nachdem mein Bruder und ich erwachsen und aus dem Haus waren.
Entweder befanden sie sich vorher im Besitz meiner Grossmutter, oder mein Vater hortete sie an anderer Stelle.
Erst als Ruheständler verfasste er eine Familienchronik mit biographischen Einzelheiten, Fotos, Papieren und Urkunden, nachdem er früher über seine Jugendjahre fast nichts erzählte und auch ein unausgesprochenes Tabu um seinen früh verstorbenen Vater schwebte. Unser kindliches Interesse wurde nur sparsam kommentiert.
Jahrzehntelang kannte ich nur wenige Fotos mit meinem Grossvater, ein Mutter-Vater-Kind-Bildchen vom Gr. Kuhrener Ostseetrand von 1935 und das letzte Familienfoto von 1941, kurz bevor er im westlichen Zentralrussland in einer Baracke der Militär-Krankenstation bei Medyn an malariabedingter Lungenentzündung verstarb.

Die mir so spät zugekommenen Fotos, die meinen Grossvater zwischen 1924 und ’41 als Verlobten, Schutzpolizisten, Ehemann, Vater, Justizbeamten und Soldaten zeigen, bringen eher interpretierte Erkenntnisse; was Eltern und Grosseltern tatsächlich widerfahren ist, bleibt schemenhaft, voller Irrtümer und eigenem lauem Erinnerungsvermögen.
Das vermeintliche Baracken-Foto mit kartenspielenden Wehrmachtssoldaten entpuppte sich als Aufnahme von 1925 mit Angehörigen der sogenannten Kasernierten Schutzpolizei in Königsberg in der Defensionskaserne Kronprinz an der Litauer Wallstrasse in Königsberg, einen mehrstöckigen roten Ziegelgebäude, das sogar gegenwärtig noch gewerblich genutzt wird. Das Haus, in dem die Familie bei Geburt meines Vaters lebte, musste hingegen dem Wandel weichen.
Sobald sein Vater 1930 vom Polizeidienst in die Justizverwaltung wechselte, zog die junge Familie nach Lauenburg in Pommern. Dort entstanden später leider die Erinnerungen, die weniger zum Schatz als zu schwerem Gepäck wurden.

Die mulmigen Mutmassungen, ob nur Verlustgefühle unterdrückt oder finstere Geheimnisse gehütet wurden, sind vielen Kriegsenkeln vertraut, selten erfahren sie Aufklärung. Bücher wie von Sabine Bode* lassen Erwachsene das Schweigen der Kindheit besser verstehen, geben Familiengeschichten Kontext, können aber Persönliches nicht ersetzen.

(300 Wörter)


* „Bekannt wurde Sabine Bode insbesondere durch ihre Bücher über Kriegskinder und Kriegsenkel. Sie deckte auf, dass kindliche Kriegstraumata oft jahrzehntelang unbewusst und unentdeckt bleiben und erst im höheren Lebensalter mit seinen zusätzlichen Belastungen offenbar werden. Darüber hinaus wirken die Traumata der Kriegskinder oft transgenerational weiter.“
Zitiert von > Wikipedia (mit Bücherliste)

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13 Gedanken zu “Erinnerungsvermögen – zur Schreibeinladung für die Textwochen 20.21.21 | Wortspende von Red Skies Over Paradise

  1. Ob mein Großvater in WK II als Soldat eingezogen war, weiß ich gar nicht. Er müsste damals so um die Mitte 50 gewesen sein, also noch „volkssturmtauglich“. Mein Vater war in einer Versorgungseinheit im Balkan und mit seinem Kommandanten gegen Ende des Krieges „getürmt“, Beide haben nie darüber gesprochen. Ein Onkel war als Leutnant bei der Waffen-SS in Italien stationiert. Auch über diese Zeit liegt die Decke des Schweigens. Der Vater meiner Frau wurde als 16-jähriger nach zweiwöchiger Ausbildung auf einen Panzer gesetzt. Er hat mit meiner Frau oder mir nie über die Zeit gesprochen, nur mit unseren Söhnen, die dann beide den Kriegsdienst verweigert haben.
    Ich denke, da sind so viele unerzählte Geschichten.

    Gefällt 4 Personen

    • Ja, da ist vieles unter der Decke des Schweigens verborgen. Inzwischen verhilft das Web als Informationsquelle den Nachkommen wenigstens im Nachhinein noch zu ein paar erhellenden Möglichkeiten.
      Danke, Werner, für deinen Kommentar!

      Gefällt 1 Person

  2. Königsberg. Zweimal war ich dort mit meiner Mutter, ich erinnere mich gut, es war sehr anstrengend und atemberaubend schön. Ich suche noch nach den Jahren, ich glaube, es war Anfang der 90er.
    Und in Groß-Kuren war ich auch … glaube ich … wir sind viel durch die Gegend gefahren. Hach …
    Danke auch für den Verweis auf Sabine Bode, man kann ihre Arbeit nicht genug hervorheben. 😁👍
    Danke fürs Erinnern.
    Nachmittagskaffeegrüße 😁🌦️🌼☕🍩👍

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  3. Ja, diese Sprachlosigkeit. Die vielleicht aus Schuldgefühlen, Scham, vielleicht aber auch aus Traumatisierungen kam. Und vielleicht auch daher, dass wir Kinder / Enkel es vermutlich gar nicht verstanden hätten, was sie uns hätten erzählen können. Ich erinnere mich, dass ich als Teenagerin sehr einseitig der Meinung war, verurteilen zu müssen. Wer kein Widerstandskämpfer war, war irgendwie „schuldig“, so hatte ich es in der Schule verstanden. Und mit Beurteilen, Verurteilen anderer Menschen ist man ja ohnehin immer schnell (bei nahestehenden Menschen manchmal besonders). Wer will da schon seine tragische Geschichte erzählen, um dann statt Anteilnahme Verurteilung durch die eigenen Kinder zu erfahren?

    Gefällt 2 Personen

  4. Das Wort Baracke führt auch bei mir zu Reminiszenzen, und so wird dies wohl eine abc-Runde mit vielen Hinweisen auf Geschichtlich-Autobiographisches. Sehr gerne habe ich deins gelesen, wie du von dem ergänzten Fotoalbum tiefer hineinsteigst ins Schweigen. Bei mir war es nicht der Großvater, sondern der Vater, der den Russlandfeldzug nicht überlebte (1942 Stalingrad). Da die Opas 1945 starben und männliche Nachbarn rar bzw schweigsam waren, und da in meiner Generation noch gar nichts in der Schule „aufgearbeitet“ wurde (unsere Lehrer gehörten ja zur „Tätergeneration“), musste ich mich selbst durch den Schutt der Zeit wühlen und versuchen zu verstehen, wie es dahin kam und was wirklich geschah. In Griechenland kam dann eine neue Schicht zum Vorschein (Besatzungsgräuel). Dieser Prozess ist bis heute nicht abgeschlossen. Und immer muss ich denken an den Satz: „Weil es einmal geschehen ist, kann es wieder geschehen“.

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